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Ende Dezember kam es wieder zu gewalttätigen Protesten in Tunesien. Junge Leute protestieren gegen Perspektivlosigkeit – ein Nährboden für Radikalisierung.

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Viele junge Menschen in Tunesien fühlen sich durch die Mächtigen in der Politik nicht vertreten. Präsident Beji Caid Essebsi ist über 90.

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Majids Bild hängt im Wohnzimmer, direkt neben dem seiner Großmutter. Sie schaut grimmig unter ihrem schwarzen Tuch hervor, das locker um den Kopf liegt und einige Haarsträhnen hervorlugen lässt. Ihr Gesicht schließt die Reihe der Ahnen ab, die auf vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos altehrwürdig dreinblicken. Majids Bild sticht hervor: ein lachendes Kind, das einzige Foto in Farbe. Und er ist der Einzige in der Reihe, der noch lebt. Aber er hängt trotzdem dort.

Für seine Mutter Leyla ist er verloren. Sie hat mit ihm seit Jahren nur noch über Skype Kontakt. Heute ist er Mitte zwanzig und lebt sein eigenes Leben. Leyla ist mit seinen Entscheidungen nicht einverstanden, etwa dass er jetzt "einer von denen" ist, wie sie es nennt. Hätte er auf ihre Ratschläge gehört, dann wäre es nicht zum Bruch mit der Familie gekommen.

"Es werden hier jeden Tag mehr, die zu den Salafisten gehen", erzählt sie. "Hier, direkt nebenan, ist ein Zentrum. Wie in einer Schule werden dort Kinder im strengen Glauben erzogen." Die Hälfte aller jungen Leute würden sich deshalb in der Gegend einer radikalen Form des Islam anschließen. "Die wollen aus Tunesien einen islamischen Staat machen. Hier haben sie schon angefangen", empört sich Leyla, die eigentlich anders heißt, wie auch ihr Sohn.

Idealisierung der Zeit Ben Alis

Sie sorgt sich nicht um sich selbst, sondern um ihren Sohn. Seit dem Sturz des Regimes im Jahr 2011 gehört er auch zu den Salafisten. Er war 17, als er zum ersten Mal mit ihnen in Kontakt kam. "Dass unsere Jungen hier radikal werden, beginnt immer in der Moschee. Jeden Tag kam er später nach Hause nach dem Gebet", berichtet Leyla. "In unserer Familienmoschee wurde der alte Imam nach der Revolution abgesetzt, der neue war Salafist."

Wie wäre mein Leben, wenn Ben Ali nicht gestürzt worden wäre? Diese Frage hat sich Leyla oft gestellt in den letzten acht Jahren. Sie kennt die Antwort: Es wäre besser. "Die Straßen waren sicher, fast alle hatten Arbeit und Lebensmittel waren günstig. Kriminalität gab es nicht", idealisiert Leyla die Zeit vor dem Arabischen Frühling. "Vor allem aber gab es keine Islamisten." Islamisten sind für Leyla das größte Übel, das die Revolution gebracht hat. Im Süden Tunesiens, wo sie herkommt, würden die alles übernehmen.

Ausgerechnet das säkularste Land in der arabischen Welt hat ein Problem mit jungen Leuten, die extrem religiös werden. Leyla schätzt, dass in der Region von Kebili in der tunesischen Wüste hinter der algerischen Grenze jeder zweite junge Mensch zum politischen Salafismus tendiert. Auch Zahlen des Innenministeriums zeigen: Fast 30.000 Islamisten sollen seit 2011 versucht haben, in den Jihad nach Syrien, Irak oder Libyen auszureisen. Gemessen an der kleinen Bevölkerung von knapp über elf Millionen Einwohnern sind diese Zahlen immens. Das hat auch die Politik erkannt und versucht gegenzusteuern.

Extremismus als Protest

"Religiöser Extremismus ist eine Reaktion darauf, dass die Freiheit des Glaubens in Tunesien lange Zeit unterdrückt wurde. Das Pendel schlägt jetzt in die andere Richtung aus, vom Verbot der Religion hin zum religiösen Extremismus", erklärt Said Ferjani von der islamischen Partei Ennahda, die zusammen mit der säkularen Nida Tounes die Regierung in Tunesien bildet. Er weiß, wovon er spricht, denn früher war er selbst ein islamistischer Hardliner. Damals, während der Diktatur, musste er deswegen ins Exil gehen. Selbst einfache Tunesier durften ihre Religion nicht auf der Straße praktizieren. Taten sie es doch, wurden sie von der Polizei schikaniert und konnten ins Gefängnis kommen.

Deshalb würden junge Leute wie Majid die Freiheit nutzen, die sie seit 2011 genießen, und sich in frommen Gruppierungen organisieren. Und dabei übers Ziel hinausschießen. Eigentlich sei es mehr ein Aufbegehren gegen das Establishment, gegen die Eliten, spielt Ferjani das Problem herunter.

Kritik an Eltern

Vielleicht war es bei Majid zunächst auch eine Form des Protests gegen die strenge Mutter. Immer häufiger suchte er Dinge, die er an seinen Eltern kritisieren konnte. "Dein Haus ist unrein, weil du es mit dem Geld der Bank bezahlst. Das ist haram", warf er seiner Mutter vor. "Mach den Fernseher aus, der ist haram." Sogar das Essen war irgendwann haram, obwohl es für Leyla als Muslimin selbstverständlich ist, nur Lebensmittel einzukaufen, die dem religiösen Reinheitsgebot entsprechen.

Leylas Sohn wurde sehr schnell immer extremer. "Er hat alle unsere Kinderfotos zerrissen, weil sie das Abbild von menschlichen Wesen zeigen", erzählt Leyla. Bald änderte sich sein Kleidungsstil. Er ließ sich einen Bart wachsen, trug Gebetskappe und ein traditionelles Gewand – völlig unüblich in Tunesien. Außerdem machte er anderen im Ort Vorschriften, wie sie sich zu benehmen hätten. Und er patrouillierte mit Gleichgesinnten als Schariapolizei.

Fingerzeig auf Europa

Der Ennahda gelingt es immer weniger, radikale Muslime zu erreichen. Sie fühlen sich auch im neuen System nicht vertreten. Viele meinen, dass die einzige islamische Partei im Parlament gemeinsame Sache mit dem Rest des politischen Klüngels mache, statt sich um die Sorgen der Leute zu kümmer: teure Lebensmittel, keine Arbeit, kaum Zukunftsperspektiven für die Kinder.

Ferjani, der heute den progressiven Flügel der Ennahda führt, weiß, dass einer der Hauptgründe für den Aufstieg radikaler salafistischer Bewegungen die wirtschaftliche Lage ist. Und dabei zeigt er nach Norden. "In Europa beschweren sich die Leute über die Migration aus dem Süden. Gleichzeitig horten sie allen Reichtum bei sich und wollen ihren weniger stabilen Nachbarn nicht helfen." Doch darauf zu warten, dass sich in Europa etwas ändert, löst in Tunesien das Problem der jungen Leute nicht.

Jungen fühlen sich nicht repräsentiert

Eine weitere Ursache für die Radikalisierung ist, dass sich die zahlenmäßige Mehrheit der Jungen in der politischen Minderheit befindet. Präsident Beji Caid Essebsi ist über 90. Ihm gegenüber steht eine Bevölkerung mit einem Altersdurchschnitt von 30 Jahren. Zum ersten Mal repräsentiert fühlten sich die Jungen nach Ben Alis Sturz einem Uno-Dossier zufolge von der Terrororganisation Ansar al-Scharia, die von 2011 bis 2013 agieren konnte. Dass ihr Sohn gewalttätig werden könnte, war Leylas große Angst. Als sie merkt, wie Majid sich verändert, versucht sie mit den Leuten in der Moschee zu sprechen. Sie erklärt, dass die Familie mit Fanatismus nichts am Hut hätte. Sie erreicht das Gegenteil. Majids Glaubensbrüder beginnen daraufhin, Leyla vor ihrem Sohn schlechtzumachen.

Sein Informatikstudium brach Majid ab. "Ich will nicht mit Frauen studieren", war seine Begründung. Stattdessen zog er mit einer Gruppe junger Männer nach Ben Guerdane an der libyschen Grenze, um dort den Koran zu studieren. Das Küstenstädtchen ist ein Knotenpunkt für extremistische Organisationen, die in ganz Nordafrika aktiv sind. Wenn er und seine Mutter skypen, sagt Majid zu ihr: "Mama, hier sind Freunde von mir. Sprich bitte leiser, die weibliche Stimme ist haram." Immer wieder versucht sie, den Wandel ihres Sohns zu begreifen. Doch er bleibt ihr ein Rätsel. (Susanne Kaiser aus Tunis, 8.1.2019)