Dem Statistiker und Politikwissenschafter Andrew Gelman von der Columbia University in New York ist es ein Anliegen, statistische Methoden einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln.

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Von Demokratie in Nordamerika über Neuropsychologie bis hin zur Wissenschaftsforschung erstreckt sich das weite Forschungsfeld von Andrew Gelman von der Columbia University in New York City. Dem Direktor und Gründer eines Forschungszentrums für angewandte Statistik ist es ein Anliegen, die Verwendung statistischer Methoden in der Forschung zu verbessern und ihre Bedeutung auch Laien zu vermitteln. Dabei untersucht der Politikwissenschafter und Statistiker auch die Rationalität und Mathematik politischer Wahlen.

STANDARD: Viele Menschen haben den Eindruck, dass es keinen Unterschied macht, ob sie wählen gehen oder nicht. Was sagt die Statistik dazu?

Gelman: Statistisch gesehen ist es sehr unwahrscheinlich, dass meine einzelne Stimme bei einer Wahl einen Unterschied macht. 2018 fanden in den USA Kongresswahlen statt. Bei einer solchen liegt die Chance, dass 434 Wahlbezirke genau zwischen Demokraten und Republikanern aufgeteilt sind und meine Stimme im 435. Bezirk entscheidend ist, etwa bei 1 zu 800.000.

STANDARD: Sie sagen, es sei dennoch sinnvoll, wählen zu gehen. Gibt es eine statistische Größe, mit der sich das beziffern lässt?

Gelman: Dafür kann man die Wahrscheinlichkeit, dass meine Stimme einen Unterschied macht, mit meinem Nutzen daraus multiplizieren. Dieser Nutzen kann ein persönlicher Gewinn sein, der dadurch entsteht, dass eine bestimmte Partei den Kongress dominiert. Zum Beispiel, wenn meine Steuern um tausend Dollar gesenkt werden. Oder die Jobsituation verbessert wird, sodass ich eine Arbeit finde und so 50.000 Dollar bekomme. Wenn wir diesen Wert in die Gleichung einsetzen, also mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 800.000 multiplizieren, kommt nur etwa 0,06 als Maßwert für die "Rationalität" heraus. Aus diesem Grund zu wählen wäre eher irrational.

STANDARD: Was wäre ein besserer Grund?

Gelman: Historisch gesehen wurde Rationalität in den Sozialwissenschaften oft mit Egoismus verbunden. Man kann allerdings auch rational, aber nicht egoistisch sein. Oder irrational und egoistisch. Bei einer nichtindividualistischen Perspektive könnte man die Situation so betrachten: Der Sieg meiner bevorzugten Partei ist gleichwertig mit einem Gewinn von tausend Dollar für jeden Bürger, weil ich denke, dass meine Partei besser für die Wirtschaft oder das Gesundheitssystem ist. Bei 300 Millionen Amerikanern ist das eine ziemlich große Summe. Setzt man das in die Gleichung ein, sind wir bei einem Wert von 300.000, was viel höher ist als 0,06.

STANDARD: Das könnte man also als rational betrachten?

Gelman: Ja. Man könnte sagen, wählen gehen ist wie ein Lotterielos kaufen, von dem aber alle profitieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Ereignis eintrifft und meine Stimme einen Unterschied macht, ist sehr klein, kann aber einen großen Effekt für die Allgemeinheit haben.

STANDARD: Sie beschäftigen sich auch mit Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen. Warum sehen diese oft anders als das letztendliche Ergebnis aus?

Gelman: Man kann sich das mathematische Zufallsmodell folgendermaßen vorstellen: Man greift in einem Behälter nach Bällen, und die Wahrscheinlichkeit für jeden Ball, gezogen zu werden, ist gleich groß. Bei Wahlumfragen verhält sich das allerdings so, als ob manche Bälle gezogen werden wollen und manche nicht. In den 1950er-Jahren hätten sich die meisten Leute an Umfragen beteiligt. Heute sind es weniger als zehn Prozent der Angefragten: Millionen von Menschen bekommen dauernd Fragebögen, und es gibt oft keinen Grund für sie, diese auszufüllen. Diejenigen, die antworten, sind oft ein bisschen einsam oder wollen sich ausdrücken.

STANDARD: Wovon hängt das Ergebnis noch ab?

Gelman: Wenn ein bestimmter Kandidat gerade erfolgreich ist, werden mehr Menschen, die diesen Kandidaten unterstützen, auf Befragungen reagieren. Wenn es bei ihm wieder schlechter aussieht, werden auch seine Anhänger seltener antworten. So ergeben sich Variationen des Enthusiasmus, die sich bei der Wahl nicht unbedingt abbilden. Eine realistische Einschätzung ist: Die wahre empirische Abweichung ist etwa doppelt so groß wie die angegebene Schwankungsbreite von Wahlumfragen.

STANDARD: Welche Besonderheiten hat das politische System der USA verglichen mit Europa?

Gelman: Europäische Großparteien sind normalerweise weniger weit voneinander entfernt, wenn es um wirtschaftliche Leitlinien geht, als Republikaner von Demokraten. Zumindest bis vor ein paar Jahren gab es einen größeren Konsens, im Gegensatz zu den USA, wo die beiden Parteien etwas weiter auseinandergehen. Die meisten Wähler sind mit "ihrer" Partei unzufrieden, aber sie hassen die andere eben noch mehr. Diese Negativität kann das Regieren schwieriger machen. (Julia Sica, 9.1.2019)