Der Anfang von Claas Relotius' Text "Königskinder" im Spiegel: "An einem frühen Morgen in diesem Sommer geht Alin, ein Mädchen mit müden Augen, 13 Jahre alt, allein durch die noch dunklen Straßen der Stadt Mersin und singt ein Lied. In klappernden Sandalen läuft sie durch die Fabrikviertel, vorbei an verfallenden Gebäuden, an Hunden, die noch schlafen, und an Laternen ohne Licht." Im nächsten Absatz folgt die Nacherzählung des Liedtexts: "Es waren einmal zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, so heißt es im Lied, die hatten alles verloren, ihre Eltern, ihr Haus, ihre Heimat."

In diesen wenigen Sätzen finden sich starke Fiktionshinweise, Hinweise noch dazu auf ein Märchen, die paradigmatisch fiktionale Gattung: zunächst durch den Titel "Königskinder", sodann damit, dass – wie in Tausendundeine Nacht – eine zweite Geschichte in die erste verschachtelt wird, und zum Dritten durch "Es war einmal", diese klassische Anfangsformel vieler Märchen der Brüder Grimm.

Der Philosoph John Searle hat in "The Logical Status of Fictional Discourse", so scheint es, ein für alle Mal klargestellt: Eine Fiktion wird durch entsprechende Hinweise als solche offengelegt und ist eben deshalb keine Lüge; während eine Lüge etwas Erfundenes zu verbergen sucht. Der Text von Relotius ist als Reportage erschienen und daher mit der Voraussetzung, nicht fiktional zu sein. Dass dennoch starke Fiktionshinweise gegeben werden, enthält eine wahrlich durchtriebene Strategie: Man tut so, als beginne man ein Märchen zu erzählen, so also, als ob man die Fiktionalität des Textes offenlege, und damit verbirgt man gerade, dass man nicht die Wahrheit sagt, dass man also lügt. Suggeriert wird dabei: Gerade weil ich mir leisten kann, in Form eines Märchens die Wahrheit zu sagen, ist an dieser nicht zu zweifeln.

Wahrheit und Erfindung

Relotius' Strategie, wenn es denn eine ist, erinnert auch an Max Frischs Drama Biedermann und die Brandstifter, doch verhält es sich dort umgekehrt: Indem die Brandstifter ankündigen, dass sie das Haus des Biedermanns anzünden werden, verbergen sie, dass sie dies tatsächlich tun werden. Die Brandstifter sagen also die Wahrheit, um sie als Erfindung zu suggerieren, und scheinen deshalb unverdächtig.

Möglich aber auch, dass Relotius uns durch jene Märchenhinweise unbewusst und zwischen den Zeilen mitteilt, dass sein Text viel Erfundenes enthält, und damit seine Lüge unter der Hand als solche eingesteht und also die Wahrheit sagt. So ähnlich vielleicht wie in Dostojewskis Schuld und Sühne Raskolnikow dem ihn verhörenden Staatsanwalt unter einer Art Wahrheitszwang immerzu Indizien für seine Schuld zu liefert.

Zudem erinnert der Text von Relotius auch an einen weiteren Fall: Unter dem Pseudonym Binjamin Wilkomirski veröffentlichte Bruno Dösseker 1995 im Jüdischen Verlag vorgebliche autobiografische (und grauenvoll detaillierte) Erinnerungen an den Aufenthalt in Nazi-Vernichtungslagern. Dort ist das Mittel der Täuschung allerdings nicht das Märchen, sondern krasser Naturalismus. Ich lese aber, dass man nach wie vor unterschiedlicher Ansicht darüber ist, ob Wilkomirski gelogen hat oder einer durch eigene traumatische Kindheitserlebnisse bedingten Selbsttäuschung zum Opfer gefallen ist.

Diese zweite Möglichkeit erlaubt eine weitere Deutung: dass Relotius vielleicht keine (oder nicht in erster Linie) betrügerische Absichten hatte, sondern seiner, sagen wir, poetischen Einbildungskraft unwillkürlich nachgegeben hat.

Wenn dem so wäre, dann würde "Königskinder" auch ein kritisches Licht auf Platons berühmte Unterstellung der Lügenhaftigkeit von Dichtern werfen: Wie vielleicht ein Trauma die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Erfindung und zwischen dem, was Autoren beabsichtigen, und dem, was ihnen unterläuft, verwischen kann, so kann dies auch die Literatur. (Franz Josef Czernin, 10.1.2019)