Vor einigen Jahren durfte ich im Rahmen einer Studienreise das finnische Schulsystem kennenlernen und mir an mehreren Schulen ein Bild von der Praxis machen. Eine dieser Schulen, die einen nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen hat, ist die im Osten Helsinkis gelegene Vesala-Schule. Sie hat eine für Finnland großen Anteil von Kindern von Zuwanderern, die Arbeitslosigkeit ist hoch, ebenso die Anzahl von Alleinerziehenden. Die Vesala-Schule ist weit über Helsinki für ihre große Expertise in Bezug auf Fördermaßnahmen bekannt. Sie erhält auf Grund der schwierigen sozialen Bedingungen großzügige zusätzliche Ressourcen von der Stadt, die sie autonom einsetzen kann.

Als ich die Schule besuchte, wurden diese Ressourcen ausschließlich für zusätzliches Personal verwendet. Konkret sah dies so aus: 40 Lehrerkräfte für 500 Schüler, dazu noch 15 Stellen für Zusatzpersonal. Neben den Regelklassen gab es außer der Vorschulklasse noch drei "Sonderklassen": Eine Klasse für Schüler mit Lernproblemen (zum Beispiel Legasthenie), eine Klasse für Kinder mit Verhaltens- und emotionalen Problemen und die Klasse "The Net" für Kinder mit besonders gravierenden Schwierigkeiten, in enger Kooperation mit Krankenhäusern und der sozialen Fürsorge. Diese "Net"-Klassen kommen dem nahe, was bei uns derzeit unter der Bezeichnung "Timeout-Klassen" diskutiert wird.

Damit wir uns eine Vorstellung machen können: Jede dieser "Sonderklassen" ist temporär, wird von (nicht mehr als) 15 Kindern besucht und jeweils von zwei Lehrern und einer Assistenzlehrkraft betreut. Wenn ein Kind auch in so einer Klasse nicht mehr unterrichtet werden kann, kann bei der Stadt um Einzelunterricht – an der Schule – angesucht werden. Innerhalb von zwei Wochen wird so ein Ansuchen behandelt.

Fallbeispiel

Ich durfte ein Kind im Einzelunterricht zwei Tage lang begleiten und möchte diesen Fall schildern, um zu zeigen, wie gute Lösungen aussehen können und warum wir über in der Politik aufgeworfene "Erziehungscamps" nicht einmal nachdenken sollen.

Es handelte sich um einen Zehnjährigen, der in der "Net"-Klasse aufgrund seiner Aggressionen nicht mehr haltbar war. Der Einzelunterricht wurde bewilligt, der Bub wurde von der deutschen Frau eines Lehrers der Schule, einer ausgebildeten Sozialarbeiterin, betreut. Und diese Betreuung sah so aus: Die Klassenlehrerin gab der Betreuerin den Lehrstoff, den diese mit dem als sehr begabt beschriebenen Buben in nicht mehr als drei Stunden pro Tag durchnahm. Mehr hätte er ihrer Einschätzung nach nicht verkraftet. Im Freizeitbereich war er mit seinen Jahrgangskollegen im Beisein seiner Betreuerin zusammen. Das sollte den Kontakt aufrechterhalten und die spätere Rückkehr in die Klasse erleichtern. In der Früh wurde er von zu Hause abgeholt, nach Unterrichtsschluss wieder nach Hause gebracht.

Die Arbeit mit und in der (iranischstämmigen) Familie hatte einen hohen Stellenwert inne. In der Familie gab es sechs Kinder – drei Töchter, drei Söhne, alle besuchten die Vesala-Schule. Alle drei Mädchen wurden als unauffällig beschrieben, die drei Buben als sehr verhaltensauffällig. Der Vater, ein Opfer des Khomeini-Regimes, verließ die Wohnung seit Jahren nicht mehr. Er war im Iran geblendet worden und galt in der Familie als sakrosankt, die Mutter wurde mir als völlig überfordert beschrieben. Alle drei Söhne waren im Einzelunterricht gewesen, der älteste sogar ganze drei Jahre lang. Und er hatte es später auf eine Fachhochschule geschafft, die er zum Zeitpunkt meines Besuchs erfolgreich besuchte.

In Finnland unterstützen viele zusätzliche Lehrer Schüler im Schulalltag und bei Problemen.
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Finnischer Konsens

"Kein Kind wird zurückgelassen" ist das Motto dieser Schule, und "Kein Kind wird zurückgelassen" ist auch der Leitsatz des finnischen Schulwesens. Auch in Finnland gibt es natürlich Gewalt an Schulen, auch in Finnland schaffen es nicht alle, auch in Finnland gibt es kriminelle Jugendliche. Aber es gibt dort diese Vision, diesen Konsens über alle Parteien hinweg, dass es alle schaffen könnten, dass kein Kind verloren gehen darf. Und es werden viele Ressourcen in die Hand genommen, um das möglich zu machen, um sich dieser Vision so weit wie möglich anzunähern.

"Erziehungscamps für Problemschüler"

Erstmals haben wir – dankenswerterweise – in Wien Zahlen zu gewalttätigen Übergriffen an Schulen, und das Problem soll hier keineswegs kleingeredet werden. Es gibt das Problem, und zwar nicht nur in Wien, keine Frage. Ob die Gewalt an Schulen insgesamt zugenommen hat, wird schwer zu beurteilen sein, da es an Vergleichsdaten fehlt. Dass wir dringend Maßnahmen zur Unterstützung von Schulen brauchen, bezweifelt kaum jemand. Was aber fällt dem Wiener Vizebürgermeister Dominik Nepp (FPÖ) dazu ein? Er fordert "Erziehungscamps für gewalttätige Problemschüler", die auch noch eine Art von verpflichtendem Arbeitsdienst leisten sollen, wie etwa das "Säubern von Obdachlosenheimen". Wenn sich das Verhalten der Kinder und Jugendlichen nicht bessert, sollte den Eltern die Erziehungsverantwortung entzogen werden. Es ist zu hoffen, dass das nicht Ernst gemeint ist, sondern dass diese Forderungen demagogisch motiviert sind, denn "Erziehungslager" erinnern an Zeiten, die wir überwunden zu haben glauben. Aus dem Bildungsministerium wurde das jedenfalls nicht einmal kommentiert, und das ist auch gut so.

Österreichs Schulen mangelt es an Unterstützungspersonal

Zur Tagesordnung übergehen dürfen wir dennoch nicht, denn es fehlt den Schulen an Ressourcen, um hier gezielt gegensteuern zu können. Und zwar nicht erst dann, wenn es – fast – zu spät ist, sondern von klein auf, angefangen im Kindergarten oder bei Bedarf noch früher, zum Beispiel in Form von aufsuchender Elternarbeit. Selbstverständlich benötigen wir aber auch klare Regeln an den Schulen und genaue Vorgaben zu Konsequenzen bei Regelverstößen.

Was die personellen Ressourcen betrifft, sieht es jedenfalls in Österreich ganz schlecht aus. Wir befinden uns nämlich an einer der letzten Stellen unter vergleichbaren (OECD-)Ländern, was das sogenannte Unterstützungspersonal anbelangt. Das ist seit langem bekannt, und eine Erhöhung wird immer wieder – erfolglos – eingefordert, nicht zuletzt von der Lehrergewerkschaft. Dabei geht es noch gar nicht um zusätzliche Ressourcen für besonders belastete Schulen, sondern um die "Grundausstattung" mit Beratungs- und Förderlehrern, Schulpsychologen, Sprachförderlehrkräften und Schulsozialarbeiten sowie mit ausreichend administrativem Personal. Dass an österreichischen Pflichtschulen im Regelfall keine Sekretariate vorgesehen sind, ist im Grunde genommen skandalös und international einzigartig. Belastete Schulen oder Schulen mit besonderen Herausforderungen brauchen darüber hinaus entsprechend mehr Ressourcen, die am besten nach einem "Chancenindex" zugeteilt werden. Über den Einsatz der Ressourcen sollten, wie etwa auch in Finnland, endlich die Schulen selber bestimmen können.

Eine Ressourcenfrage

Um noch einmal zur Vesala-Schule zurückzukommen: Der Schule standen zum Zeitpunkt meines Besuchs folgendes Personal zur Verfügung: zusätzlich zu den Klassen- und Fachlehrern eine Schulkrankenschwester, eine Beratungslehrerin und eine Psychologin. Dieses Personal ist immer an allen finnischen Schulen vorhanden. Dazu kamen persönliche Betreuer der Kinder, Lehrer der Sonderklassen und Kleingruppenlehrer, insgesamt also 15 Personen zusätzlich, finanziert durch die Stadt Helsinki. Zum Vergleich: Dem bevölkerungsstärksten Wiener Gemeindebezirk Favoriten (mehr als 200.000 Einwohner) standen bis vor kurzem ganze drei (!) Schulsozialarbeiter zur Verfügung. Jetzt sind es sechs.

Fazit: Wir brauchen dringend eine Gesamtstrategie zum Umgang mit Gewalt an Schulen. Fangen wir dennoch bei der Ressourcenfrage an. (Heidi Schrodt, 15.1.2019)

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