Mit seinen fast 83 Jahren versucht Harald zur Hausen nimmer noch gegen den wissenschaftlichen Mainstream zu schwimmen. Schon in den 1970er-Jahren hat er sich nicht davon irritieren lassen, von vielen Kollegen als "verrückter kleiner Spinner" abgetan zu werden. Seine Überlegung, dass Gebärmutterhalskrebs von humanen Papillomaviren verursacht werden könnte, galt damals als ziemlich abwegig. Bis er Anfang der 1980er-Jahre den wissenschaftlichen Nachweis dafür erbrachte. Vollends überzeugt war die Scientific Community von seiner Erkenntnis aber erst, als er 2008 den Nobelpreis dafür erhielt.

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Studien haben gezeigt: In Ländern, in denen Säuglinge nur kurz gestillt werden, treten häufiger Dickdarm- und Brustkrebs auf.
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Inzwischen hat sich Zur Hausen auf die Suche nach Darm- und Brustkrebserregern in Milch und Rindfleisch begeben. Schon wieder ein recht ungewöhnlicher Gedanke, "aber seit dem Nobelpreis schlägt mir nicht mehr ganz so große Skepsis entgegen", schmunzelt der Forscher im Gespräch mit dem STANDARD. Wie aber kommt man überhaupt auf die Idee, gerade in Rindfleisch und Milch nach Krebserregern zu suchen? "Schon Anfang der 1980er-Jahre, als ich die Leitung des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg übernahm, habe ich die Krebsraten in den verschiedenen Ländern verglichen", berichtet Harald zur Hausen. Zunächst sei ihm aufgefallen, dass in Ländern mit hohen Brustkrebsraten auch sehr viele Menschen an Dickdarmkrebs erkrankten. Das habe ihn zur nächsten epidemiologischen Beobachtung geführt: Beide Krebsarten sind vor allem dort stark verbreitet, wo viel Rindfleisch und Milchprodukte konsumiert werden.

Der Forscher begann also, gemeinsam mit seiner Frau und Kollegin Ethel-Michele de Villiers das Blutserum und die Milch von Kühen zu analysieren. Was die beiden dabei fanden, ist nicht weniger aufsehenerregend, als es einst die Entdeckung der Papillomaviren war. "Wir konnten eine neue Klasse von Infektionserregern nachweisen, die ursprünglich von Bakterien stammen", berichtet zur Hausen. "Bakterien enthalten viele kleine chromosomale Elemente, sogenannte Plasmide. Wir haben eine bestimmte Klasse von Plasmiden isolieren und charakterisieren können, die sich eigenständig – ohne Bakterien – in menschlichen Zellen vermehren."

Verzicht bringt nichts

Die Forscher fanden auch heraus, welche Rolle diese Plasmide bei der Entstehung von Dickdarm-, Brust- und möglicherweise auch Prostatakrebs spielen. Völlig neue Erkenntnisse, mit denen der Blick auf Krebserkrankungen und ihre Ursachen revolutioniert werden könnte. "Von Plasmiden abgeleitete Infektionserreger – wir nennen sie BMMF (Bovine Milk and Meat Factors) – findet man in der Milch und im Serum von Rindern in relativ großem Umfang", erklärt der Wissenschafter. "Es sind dieselben BMMFs, die wir auch in Dickdarm- und Brusttumoren nachweisen können."

Sollte man also Rindfleisch und Kuhmilchprodukte meiden, um sich vor Dickdarm- und Brustkrebs zu schützen? "Nein", sagt der Wissenschafter. "Wir sind ohnehin alle längst damit infiziert und haben Antikörper gegen diese Erreger gebildet, sodass gegen Infektionen meist schon ein Immunschutz vorliegt." Deshalb auf seinen gelegentlichen Rinderbraten zu verzichten falle ihm gar nicht ein: "Ob wir heute Rindfleisch essen oder nicht, ändert am Risiko einer Brust- oder Darmkrebserkrankung nichts mehr." Die kritische Phase sei nämlich die Periode des Abstillens, wenn dem Baby erstmals tierische Produkte gefüttert werden: "Während der Stillperiode kann sich der Säugling nicht mit diesen Erregern infizieren, weil durch spezielle Zucker in der Muttermilch die Rezeptoren für die Infektionserreger blockiert werden", erläutert der Wissenschafter.

Langwieriger Prozess zum Dickdarmkrebs

Bekommt der Säugling dann andere Nahrung, gelangen damit auch die Infektionserreger in den Körper. Sie erzeugen an bestimmten Stellen des Dickdarms kleine Entzündungen, allerdings nicht in jenen Zellen, die später in Krebs übergehen. Die chronischen Entzündungen im Dickdarm führen jedoch zum Entstehen von Sauerstoffradikalen, die letztlich Mutationen in bestimmten Zellen auslösen. Meist seien diese Veränderungen harmlos, doch wenn bestimmte Gene wie etwa das AP1-Gen getroffen werden, fangen die Zellen stärker zu wachsen an und können langfristig zu Krebs werden.

"Es ist ein sehr langwieriger Prozess, den wir für den Dickdarmkrebs belegen können", so Harald zur Hausen. Es gebe zuverlässige Anhaltspunkte, dass die Entstehung von Brustkrebs ganz ähnlich abläuft. "Was wir hier beobachten können, ist eine indirekte Karzinogenese", erklärt der Nobelpreisträger. "Wie bei Leberkrebs die Hepatitis-C-Viren, lösen hier die plasmidabgeleiteten Infektionserreger auf einem indirekten Weg Krebs aus."

Frühe Krebsprävention

Brust- und Darmkrebsprävention ist nach diesen Erkenntnissen also im Säuglingsalter am sinnvollsten – und zwar durch möglichst langes Stillen. Die Rufzeichen dahinter liefert einmal mehr die Epidemiologie. "Länder, in denen Babys lange gestillt werden, haben die niedrigsten Brust- und Dickdarmkrebsraten", fand der Forscher heraus. "In Kanada, Großbritannien oder den Niederlanden, wo am kürzesten gestillt wird, sind diese Krebserkrankungen dagegen stark verbreitet." Aber nicht nur für die Babys ist langes Stillen ein guter Schutz, die Mütter reduzieren damit auch für sich selbst die Gefahr, an Brust-, Darm- oder einer anderen Krebsart zu erkranken.

SÜDWEST PRESSE

Nun ist also stichhaltig nachgewiesen, dass der Infektionserreger in Rindfleisch und Kuhmilchprodukten häufig vorkommt – was aber ist mit dem Fleisch und der Milch anderer Tiere? "Im Gegensatz zum Rindfleisch korreliert der Verzehr größerer Mengen 'weißen' Fleisches etwa von Hühnern oder Fischen nicht mit erhöhten Krebsraten", weiß der Forscher. Etwa zehn Prozent aller Dickdarm- und ca. zwölf Prozent der Brustkrebserkrankungen werden, so Harald zur Hausen, durch die von ihm identifizierten Infektionserreger verursacht. "Zurzeit geht man davon aus, dass gut die Hälfte aller menschlichen Krebserkrankungen mit Infektionen zu tun hat." Und zwar nicht nur in Afrika oder Indien, auch bei uns.

Was aber tun mit diesem neuen Wissen? Wie können sich die Menschen vor solchen gefährlichen Infektionen schützen? "Wir arbeiten zwar bereits an verschiedenen Möglichkeiten, aber von einem klaren Ergebnis sind wir noch weit entfernt", dämpft der Forscher im Rahmen der Nobel-Lecture auf Einladung des Forschungsverbunds BioTechMed-Graz allzu ungeduldige Erwartungen. Eine dieser Möglichkeiten ist natürlich eine Impfung, wie sie zum Schutz vor Gebärmutterhalskrebs bereits auf breiter Basis eingesetzt wird. "Ich gehe davon aus, dass man den Babys diese Impfung dann noch während der Stillphase verabreichen wird." (Doris Griesser, 19.1.2019)