Praktisch: ein türkiser Wecker für Fleißige.

Cartoon: Michael Murschetz

Haben Sie gewusst, dass Nichtwiener im Durchschnitt um 6.41 Uhr aufstehen, der saturierte Hauptstädter hingegen erst geschlagene 32 Minuten später? Und als sei dies noch nicht verblüffend genug, sind es eben nicht die vitalen Vorarlberger und Tiroler, die am frühesten ihrer Verwertung entgegenhetzen, wie doch alle Welt geglaubt hätte, sondern die Niederösterreicher und Burgenländer. Man lernt nie aus.

DER STANDARD hat am 15.1. den beherzten Versuch unternommen, Sebastian Kurz' Furcht vor dem Liegenbleiben der Österreicher mit einem Faktencheck zu kontern. Und herausgefunden, was wir immer schon ahnten, uns jedoch nie zu sagen trauten, weil es Opa aufwecken könnte: Pensionisten schlafen am längsten. Aber dass erwerbstätige Frauen 8:02 Stunden pro Nacht, arbeitslose Frauen nur 20 Minuten länger schlafen, habe selbst ich nicht gewusst.

Die Autoren gehen dem Bundeskanzler ganz schön auf den Leim, wenn sie seine Korrelation von Frühaufstehen und Lohnarbeit beim Wort nehmen. Der aufklärerische Wert solch einer Expertise gleicht einem chemischen Abgleich des Buttersäuregehalts von Floridsdorfer und Kapfenberger Achselschweiß zur Relativierung der Behauptung, dass Wiener strenger röchen.

Der Geist Thatchers

Zu ernst nehmen sie das beschämend einfältige Gebrabbel, das sich so anhört, als sei der Geist Maggie Thatchers in den Körper eines achtjährigen Klassenstrebers gefahren. Kurz scheint jedenfalls eine eigenartige Fixierung auf vertikale und horizontale Körperpositionen zu haben, auf Aufstehen und Liegen. Aufstehen, früher auch Sinnbild ziviler Selbstermächtigung, scheint bei ihm nur als erster Schritt auf dem Weg zur Stechuhr denkbar. Dass der Mechaniker, der die Schrauben unter seinem Geilomobil anzog, erst aufstand, sobald er auf Mittagspause ging oder den Job verlor, interessiert Kurz nicht, aus dem die schichttypische Ahnungslosigkeit über die Welt der Arbeit spricht.

Auch von der Arbeits- und Lebenswelt der Hausfrauen und alleinerziehenden Mütter scheint er weder Ahnung zu haben noch haben zu wollen. In immer mehr Familien stünden nur mehr die Kinder in der Früh auf, um zur Schule zu gehen, behauptete ein Bundeskanzler, dessen Regierung den Ausbau von Ganztagsschulen um die Hälfte kürzen will, 30 Millionen Euro bei der Kinderbetreuung einspart und Familienboni gewährt, die desto höher ausfallen, je höher die Elternteile verdienen, aber Teilzeitarbeitende sowie arbeitslose Mütter weiter in die Armut drängt.

Neoliberale Wahrheit

Doch Unsinn entschärft man bekanntlich am besten durch die Behauptung noch größeren Unsinns: Zwei Tage später schleppte sich der Geist Maggie Thatchers in Kurz' Ephebenkörper ins "ZiB"-Studio, um klarzustellen: "Wen soll ich denn empört haben? Die, die jeden Tag aufstehen und arbeiten gehen? Weil ich sage, es ist schlecht, wenn's Menschen gibt, die nicht aufstehen oder nicht aufstehen können oder nicht aufstehen wollen, weil sie in der Mindestsicherung sind?" So viel neoliberale Wahrheit hat selten aus Knabenmund gesprochen.

Kein Lapsus war das, wie die puerile Sprechweise nahelegen würde. Das ideologische Programm, das sich des Mediums Kurz hier bedient, spult sich mit mechanischer Vorhersehbarkeit ab. Es tut das aber so frech und laut und zynisch, dass es selbst liberalen Journalisten die Sprache verschlägt, welche bislang nur darüber geschwiegen haben und dafür in Lohn und Brot gesetzt waren, jede Einsicht als linke Propaganda abzutun, dass hier Plünderökonomie am Werk ist, die klientelistische Umverteilung von unten nach oben, die mutwillige Delegitimierung sozialer Sicherheitssysteme, die schleichende Entdemokratisierung sowie Hetze gegen Fremde als Folge und Ablenkung von ebendieser Politik.

Soziale Abbruchkante

Schritt für Schritt: Die Regierung will Arbeitslose aus der Notstandshilfe, einer Versicherungsleistung, in die Mindestsicherung, einen Almosendienst, treiben, sie sichert sich den Zugriff auf deren Sparbücher und Privatbesitz und will den Arbeitslosengeldbezug für kranke Menschen unterbinden. "Hat man erst eine Demütigung schweigend hingenommen", wusste Jonathan Swift, "wird man künftig mit weiteren rechnen müssen. Die Verachtung wächst, die Skrupel unserer Widersacher schwinden dahin. Wie eine Dirne sinken wir von Stufe zu Stufe."

In Österreich gibt es 70.000 offene Stellen. Und es gibt 380.000 Arbeitssuchende. Je weniger sich Leistung lohnt, desto hysterischer muss sie eingefordert werden, je weniger Arbeit vorhanden ist, desto unverfrorener müssen jene, die keine finden, als "Volksschädlinge" markiert werden. Die Ausländer, Fremden, Muslime, Asylanten haben als Wahlhelfer wider Willen beste Dienste geleistet, nun muss der untere Mittelstand an der sozialen Abbruchkante gegen die Abgehängten, im wahrsten Sinne des Wortes Liegengebliebenen, aufgehetzt werden.

Demokratisches Aufstehen

Die neoliberale Hetze gegen Minderleister führt in empirischer Konsequenz – Kurz' Mund hat es in der ORF-Séance deutlich gesagt: "jene, die nicht aufstehen können" – zur Hetze gegen die, welche weniger leisten können: zum Beispiel Menschen mit Behinderung. Ihre in erbärmlichen Almosenleistungsshows wie "Licht ins Dunkel" zelebrierte Verdinglichung, die als vorläufiger Schutz der Schwäche durch die Stärke daherkommt, ist bereits die moralistische Markierung des Lebens, das keine Werte schafft. Solange sie der Volksgemeinschaft angehören, dürfen sie sich – noch – als Gnadenempfänger wähnen. Was ihnen blüht, können sie an greisen Migranten beobachten, für deren lebensnotwendige Herzoperation kein Geld da ist.

Aufzustehen, um arbeiten zu gehen, kann bald einer. Aber aufzustehen, um seine demokratische Pflicht zu erfüllen, die in mehr besteht, als alle paar Jahre ulkige Namen anzukreuzen, ist eine Leistung, die mit keinem Sozialleistungsentzug aufzuwiegen ist.

Es besteht kein Grund zu linker Romantik, dennoch haben die Gelbwesten gezeigt, wie es auch hier gehen könnte, wenn die Frühaufsteher wie die Langschläfer in Österreich nicht solche Nachtwandler wären. In Frankreich hat erstmals eine Front aus dumpfbackigen Nationalisten, frustrierten Mittelständlern, Migranten, Linken, Bildungs- und Handarbeitern gezeigt, wie sich gesellschaftliche Wut von Randgruppen in die Chefetagen der eigenen Entmündigung und Enteignung umleiten lässt, kurzum: wie man nicht nach unten, sondern nach oben tritt.

Knotzen in der Matratzengruft

Noch nicht geklärt aber ist die tiefenpsychologische Dimension von Kurz' bizarrer Fixierung aufs Aufstehen. Seine Worte deuten jedenfalls auf eine recht verkümmerte Fantasie hin, die sich für alle, die aus der Lohnarbeit fielen, keine erfüllenderen Orte, keine erfüllendere Tätigkeiten vorstellen kann als das Knotzen in der Matratzengruft. Vielleicht aber spricht aus ihnen auch die unterdrückte Sehnsucht eines von einem Termin, von einem Fettnäpfchen zum anderen Hetzenden nach dem Totalausstieg aus diesem Leerlauf von Macht, Entmenschlichung, Optimierung und Zwang, nach dem befreienden Sandmännchen, nach dem Wegbüseln aus einer Realität, wo die Angst vor Jean-Claude Junckers spitzer Zunge und den vielen undankbaren Seelen nicht länger plagt, die einem hinter die alerten Phrasen geguckt und ihre eigene Verarschung erkannt haben.

Einfach nur schlafen – in ozeanischer Entrückung liegen, zappen, "How I Met Your Mother" gucken und nie wieder aufstehen. Schlaf dich aus, Junge. Damit du nicht noch mehr Unheil anrichtest. Wir werden indes aufstehen und nicht untätig herumlungern, denn der soziale Kahlschlag, dessen fürwitzigste Motorsäge du abgabst, erfordert tatkräftige Wiederaufforstung. (Richard Schuberth, 19.1.2019)