Am Willen fehlt es nicht: Auch wenn politisch geschwächt, unterzeichneten Angela Merkel und Emmanuel Macron am Dienstag in Aachen voller Schwung und mit hehren Worten die Fortsetzung des Élysée-Vertrags. In gefühlter Einigkeit erinnerten sie daran, dass das erste Abkommen vom 22. Jänner 1963 die deutsch-französische Freundschaft begründet hatte und der europäischen Einigung entscheidende Impulse vermittelte.

Gewiss, Charles de Gaulle hatte sich damals auch geärgert, dass der deutsche Bundestag dem Vertrag bei der Ratifizierung eigenmächtig eine Präambel voranstellte, welche die Verankerung in der westlichen Nato betonte – während Frankreich damals zu einer blockfreien Stellung zwischen USA und Sowjetunion tendierte. Dass der Schulterschluss zwei alte Erzfeinde versöhnte, sicherte ihm aber einen Platz in den Geschichtsbüchern.

Macron schlug schon im September 2017, also kurz nach seiner Wahl zum Staatschef, an der Sorbonne-Universität eine Fortschreibung des Abkommens für den 55. Jahrestag vor. Berlin war aber sehr mit der Bundestagswahl beschäftigt. Nach einjähriger Verzögerung war es nun so weit.

Harmonisierung

Auf französisches Drängen hin erwähnt das Abkommen einen "gemeinsamen Wirtschaftsraum". Er soll namentlich Grenzgebieten wie Baden-Elsass einen leichteren Austausch ermöglichen. Ein gemeinsamer "Rat von Wirtschaftsexperten" soll darüber wachen. In der Außen- und Europapolitik wollen sich beide Länder systematisch absprechen und wenn möglich – wie etwa im Fall des Mali-Konflikts – die gleiche Haltung anstreben. Zur Harmonisierung der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik soll ein gemeinsames "Steuerungsorgan" entstehen.

Innenpolitisch sind sie geschwächt, die bilateralen Beziehungen feiern sie umso mehr: Angela Merkel und Emmanuel Macron.
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Nicht nur der Hang zu Gremien und Kommissionen ist französisch: Ein Macron-Berater meint, das Duo müsse "offensiv, effizient, engagiert und koordiniert vorgehen", um die populistischen, euroskeptischen Stimmen zu kontern und eine Alternative zu den Exit-Ideen zu bilden. Die Chefin der französischen Rechten, Marine Le Pen, wirft dem neuen Élysée-Vertrag vor, er sei unausgewogen und benachteilige Frankreich. Neuerdings um staatsmännische Zurückhaltung bemüht, überlässt sie die groben Sprüche ihren Sekundanten.

Gezielte Falschinformationen

Der Europaabgeordnete Bernard Monot meinte gar, der neue Vertrag liefere Elsass und Lothringen an Deutschland aus. Zur Begründung sagte er in einer erstaunlichen Verdrehung der Fakten, die Verwaltungssprache der Grenzregionen werde Deutsch. Wenn schon, ist es eher umgekehrt – bemüht sich doch beispielsweise das Saarland, Französisch zu einer Verkehrs- und Umgangssprache zu machen. Die Zeitung "Le Monde" glaubte ihre Leser trotzdem beruhigen zu müssen: "Nein, Deutschland erhält Elsass und Lothringen nicht zurück."

Viele Proeuropäer bedauern vielmehr, dass dem neuen Élysée-Vertrag die historische Tragweite fehle. "Die zwischen Paris und Berlin organisierten Feiern und Zeremonien kaschieren nicht länger das Fehlen gemeinsamer Vorhaben", bekennt der französische Ex-Innenminister Matthias Fekl.

Dass die europäischen Bäume nicht höher in den Himmel wachsen, musste Macron schon vor längerem einsehen. Seine Idee eines integrierten Eurobudgets ist unter diskreter, aber umso hartnäckigerer Einwirkung des Berliner Finanzministeriums zur Unkenntlichkeit verkümmert. Der neue Élysée-Vertrag erwähnt einen "gemeinsamen Ansatz für Rüstungsexporte" – das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Berlin und Paris etwa im Fall Saudi-Arabien sehr unterschiedlich zu Werke gehen.

Die moralische Entrüstung beansprucht Frankreich für sich, wenn es eine Digitalsteuer für Google, Amazon und Konsorten vorantreibt. In Berlin weckt der Vorstoß wegen allfälliger Retorsionsmaßnahmen der USA bedeutend weniger Begeisterung.

Brexit ist nicht gleich Brexit

Auch außen- und sicherheitspolitisch ist man nicht immer auf der gleichen Wellenlänge. Den Brexit sehen die Franzosen weniger dramatisch als die Deutschen. Fast froh über den EU-Rückzug der "liberalen" Briten, glaubt man in Paris, mit London die Militärkooperation nahtlos fortsetzen zu können. Deshalb treibt Macron eine "Europäische Interventions-Initiative" voran, bei der die Franzosen und die Briten dank ihrer Armeestärke das Sagen hätten. Weniger wichtig ist ihm, dass Merkel verteidigungspolitisch auf die "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" (Pesco) setzt, das heißt die Gegenorganisation mit möglichst allen EU-Partnern.

Krass zeigten sich die Differenzen Ende 2018, als Vizekanzler Olaf Scholz den Franzosen den Vorschlag machte, sie könnten ihren permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat doch an die EU abtreten. Sinnvoll oder nicht, ernte das Ansinnen in Paris ein klares Njet. Im Élysée-Vertrag heißt es nun, Frankreich setze sich für einen deutschen Dauersitz im Sicherheitsrat ein. Dabei wissen alle, dass die Realisierungschancen gleich null sind.

Allgemein ist der Élysée-Vertrag in der Substanz oft nur heiße Luft. Die gegenseitige Beistandspflicht bei "Aggressionen" ist schon im Nato-Abkommen verbürgt oder wird im Fall von Terroranschlägen auf Polizeiebene bereits praktiziert. Die Flics und Polizisten beider Rheinseiten brauchen keinen erweiterten Länderpakt: Sie leben die "deutsch-französische Freundschaft" längst schon im Alltag. (Stefan Brändle aus Paris, 22.1.2019)