Zunächst die gute Nachricht: Ausgangspunkt von Ahmad Milad Karimi ("Die Aufklärung ist nicht die Lösung aller Probleme") ist nicht der Koran – der nicht einmal erwähnt, geschweige denn zitiert wird -, sondern Religiosität als anthropologisches Phänomen und die Religionsphilosophie. Das wird bei aller berechtigter Kritik an Karimis polemischer Attacke gegen die europäische Aufklärung gerne übersehen. Sogar am Holocaust soll nämlich diese Aufklärung (mit)schuld gewesen sein. Denn Millionen Juden wurden – so Karimi – "von sehr aufgeklärten Menschen" vergast. Von welcher Aufklärung ist hier eigentlich die Rede? Oder ist "die Moderne" gemeint?

Karimis Ausgangspunkt ist – wie bei der Mehrheit der europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts – nicht mehr ein heiliger Text, der festlegt, was als moralisch oder gerecht zu gelten hat, sondern – Kantisch formuliert – die eigene, selbstreflexive Vernunft. In einem zweiten Schritt plädiert Karimi für eine aufgeklärte Religiosität. Was ihn wiederum mit den meisten europäischen Aufklärern verbindet; Locke, Rousseau oder Kant sind typische Beispiele. Die neuere Forschung hat im Anschluss an Ernst Cassirer genau diese religionsphilosophische Dimension der Aufklärung herausgearbeitet, jenseits des Klischees einer atheistischen oder positivistischen Aufklärung. Siehe etwa die Arbeiten von Helena Rosenblatt, Albrecht Beutel, Robert Louden, Ulrich Lehner.

Missverständnis-Einladung

Die schlechte Nachricht: Es ist schade, dass Karimis Formulierungen im Interview über "die" Aufklärung zu Missverständnissen geradezu einlädt. Viele Aufklärer hielten wenig von Essenzialismus, von einem Denken in "Wesenheiten", von der Überzeugung, dass eine Erkenntnis etwa vom Wesen des Seins oder des Menschen möglich wäre. Leider bezieht sich Karimi nicht nur undifferenziert auf "die" Aufklärung. Auch von "dem" Islam ist offensichtlich in essenzialistischer Art und Weise die Rede. Der Islam wolle "den Menschen zum Guten erziehen, für das Gute begeistern".

Welcher Islam ist hier gemeint? Karimi spricht hier tatsächlich von seinem eigenen Islam-Verständnis, nicht von "dem" Islam, den es als solchen gar nicht gibt (wie er selbst einmal implizit anmerkt). Was es gibt, sind sehr heterogene, oftmals widersprüchliche Traditionen und Strömungen "im Zeichen des Koran" (siehe etwa Rüdiger Lohlker, "Islam. Eine Ideengeschichte", 2008).

Die "Werte des Islam" sind bei Karimi de facto einige der moralischen und rechtlichen Prinzipien der säkularen, europäischen Aufklärung, wie etwa das Prinzip der persönlichen Autonomie. Es ist historisch allerdings fragwürdig, diese Prinzipien von einigen Vertretern der europäischen Aufklärung als "islamisch" zu etikettieren.

Klischees einer monolithischen Aufklärung und der Bezug auf einen "echten" oder "wahren" Islam sollten aufgegeben werden. Das wäre jedenfalls ein Schritt der praktizierten Aufklärung. Und auch ein weiterer Beitrag zu einem aufgeklärten Islam. (Georg Cavallar, 23.1.2019)