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Das Friedensdenkmal in Londonderry nennt sich " Ein Handschlag über alles Trennende hinweg". Der Brexit könnte dieses Motto gefährden.

Foto: REUTERS/Clodagh Kilcoyne

Der Zeitpunkt des Bombenanschlags in Derry war bewusst gewählt. Am 21. Jänner jährten sich das erste Treffen des unabhängigen irischen Parlaments, Dáil Éireann, und der Beginn des Unabhängigkeitskriegs zum hundertsten Mal. Die Autobombe explodierte, nachdem eine 20-minütige Telefonwarnung eingegangen war. Die Polizei hat das Gebiet rechtzeitig geräumt, es gab keine Verletzten.

Die Polizei führte bereits in den Morgenstunden Hausdurchsuchungen durch; fünf Personen wurden verhaftet. Am Montag wurden in Derry drei Fahrzeuge entführt und an strategischen Punkten platziert. Eine bekannte Übung zur Informationsbeschaffung, die in der Vergangenheit von der Real IRA nach Anschlägen angewendet wurde.

Die Wurzeln der Neuen IRA gehen auf das Jahr 1997 zurück, als die IRA dem Friedensprozess zustimmte. Eine Gruppe militanter Republikaner trennte sich und gründete die Real IRA. Ihr bekanntestes Mitglied war Mickey McKevitt, der bis dahin Quartiermeister der IRA war. Die Gruppe war zwar klein, aber sie umfasste erfahrene Bombenbauer, und dank McKevitt hatte sie Zugriff auf einen Teil des IRA-Waffenarsenals. Am 15. August 1998 bekannte sie sich zum Bombenanschlag in Omagh. Dabei starben 29 Menschen.

Neue Grüppchen ...

Der Friedensprozess war dadurch nicht mehr zu stoppen. Über die Jahre verkündete die IRA ihre Waffenabgabe, und Sinn Féin trat mit der unionistischen DUP in eine Regierung ein. Der Schritt, die nordirische Polizei ebenfalls anzuerkennen, war für viele Republikaner zu viel. Ab 2008 trennten sich immer mehr Aktivisten von Sinn Féin und gründeten neue politische und militärische Grüppchen.

Der Exodus von erfahrenen IRA-Mitgliedern und ehemaligen politischen Gefangenen ging von den ländlichen Gebieten Nordirlands aus, vor allem den Grafschaften Tyrone und Armagh. Die Real IRA hatte zudem eine relevante Basis in der Bevölkerung von Derry. Heute gibt es im Wahlkreis Derry/Strabane drei Stadträte, die dissidenten Republikanern zuzurechnen sind. Einer ist Gary Donnelly, ein Mitglied des 32 County Sovereignty Movement, des politischen Arms der Real IRA.

Diese Real IRA schloss sich im Juli 2012 mit einem Teil jener Gruppen, die Sinn Féin seit 2008 verlassen hatten, zur Neuen IRA zusammen. Die Gruppe verkündete, weiterhin am bewaffneten Kampf für eine Wiedervereinigung Irlands festzuhalten. Im November 2012 erschoss die Neue IRA David Black. Black war Gefängniswärter im Hochsicherheitsgefängnis Maghaberry, in dem sich zu dieser Zeit rund 30 republikanische Gefangene in einem Protest befanden.

Seither kommt es immer wieder zu sporadischen Anschlägen durch die Neue IRA. Sie ist die größte und aktivste paramilitärische Organisation auf republikanischer Seite. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 waren republikanische Gruppen für insgesamt 70 Morde verantwortlich.

Im März 2016 organisierten Unterstützer der Neuen IRA zum 100. Jahrestag des Dubliner Osteraufstandes einen Marsch durch die Kleinstadt Coalisland. Daran nahmen bis zu 5000 Personen teil.

... und ein politischer Arm

Im Herbst 2016 gründete die Neue IRA schließlich einen politischen Arm, Saoradh. Es war auf der Homepage von Saoradh, wo nur wenige Minuten nach dem Bombenanschlag eine Stellungnahme veröffentlicht wurde, in der dieser als Tat "revolutionärer Republikaner" gefeiert wurde, um des Beginns des Unabhängigkeitskrieges zu gedenken. Die Ereignisse in Derry verschärfen die prekäre politische Lage in Nordirland weiter. Seit über zwei Jahren tagt das Lokalparlament Stormont nicht mehr. Die EU-Kommission kündigte an, dass es im Falle eines No-Deal-Brexit zu einer harten Grenze kommen werde.

Saoradh lehnt die EU ab, beteiligte sich aber nicht an der Brexit-Kampagne. Ihre Erwartung ist, dass der Brexit eine Möglichkeit ist, den Wiedervereinigungsprozess voranzutreiben. Eine harte Grenze würde "die Realität der britischen Besatzung Irlands zurück in die Köpfe der Menschen bringen", so ihre offizielle Position. Dadurch würde die Unterstützung für Wiedervereinigung steigen und sich für die Neue IRA neue Anschlagsziele eröffnen.

Bisher folgten den Drohungen keine Taten. Unter den Anhängern regte sich Unmut. Nach mehreren vereitelten Anschlagsversuchen war die Autobombe von Samstagnacht ein Zeichen, dass die Neue IRA in der Lage ist, Anschläge durchzuführen. Das Attentat wird wieder die Reihen schließen. Für die Neue IRA war es eine erfolgreiche Werbeaktion.

In Zukunft ist mit weiteren Attentatsversuchen zu rechnen. Auch wenn der Bombenanschlag nicht direkt in Zusammenhang mit dem Brexit steht, die Organisation wird versuchen die politische Unsicherheit in der Region auszunützen. Eine neue Gewaltwelle, die über sporadische Anschläge hinausgeht, ist nicht zu erwarten. Dafür ist die Gruppe zu klein, ihr fehlt die Infrastruktur, und sie ist vom Geheimdienst unterwandert. Seit dem Karfreitagsabkommen 1998 besteht ein niedriges, aber permanentes Level an Gewalt in Nordirland. Dieses wird nach dem Brexit weiter bestehen bleiben. Gruppen wie die Neue IRA kämpfen bewaffnet für eine Wiedervereinigung Irlands und sie werden dies weiterhin machen, mit oder ohne harte Grenze. (Dieter Reinisch, 23.1.2019)