Sein Wert wird mit drei Millionen Reais (rund 700.000 Euro) angegeben, doch Geld bietet keine sinnvolle Grundlage, den tatsächlichen Wert des Steines zu bemessen. Es handelt sich dabei keinesfalls um ein funkelndes Juwel, gar einen besonders facettierten Brillanten – im Gegenteil. Er hat auf einer Seite eine glasige schwarze Kruste, der Rest der Oberfläche zeigt sein dunkles, krümeliges Innenleben. Und doch ist der "Angra dos Reis" genannte Stein von unschätzbarem Wert – durch seine Seltenheit vor allem für die Wissenschaft, aber auch durch seine bewegte Geschichte. Diese wurde durch das Inferno im Museu Nacional in Rio de Janeiro im vergangenen September und seine Bergung aus dem Schutt im Oktober um ein weiteres Kapitel ergänzt.

Angra dos Reis ist das Prunkstück der mehr als 400 Meteorite umfassenden Sammlung des brasilianischen Nationalmuseums. Er gehört zu einer der seltensten Gruppen der Meteorite, den nach ihm benannten Angriten. Diese gehören zu der Klasse der Achondrite. Dabei handelt es sich um Steinmeteorite, die aus der Kruste von Asteroiden oder Protoplaneten stammen, die bei der Entstehung des Sonnensystems zumindest zum Teil eine Differenzierung in einen Eisenkern und leichtere Gesteine durchlaufen haben. Daher enthalten diese Steine, im Gegensatz zu den viel häufigeren Chondriten, keine Chondren, winzige Silikatkügelchen, die das älteste Material unseres Sonnensystems darstellen.

Rarität

Von den mehr als 68.000 bisher klassifizierten Meteoriten gehören nur etwa 2.800 zu den Achondriten. Von diesen wiederum sind nur dreißig Vertreter der Angrite. Die meisten von ihnen wiegen nur wenige Gramm. Und Angra dos Reis ist der einzige seiner Gruppe, dessen Fall beobachtet wurde und der daher nicht längere Zeit der Verwitterung auf der Erdoberfläche ausgesetzt war, bevor er gefunden wurde. Daher ist er von besonderer Bedeutung, weil er frisch und unverändert ist.

Bote aus dem jungen Sonnensystem

Angrite sind das älteste bekannte magmatische Gestein. Sie bestehen aus relativ porösem Basalt, der vor rund 4,56 Milliarden Jahren kristallisierte. Innerhalb der Gruppe der Angrite sticht Angra dos Reis jedoch durch eine untypische Zusammensetzung heraus, denn er enthält hohe Anteile des seltenen Minerals Fassait. Wegen ihrer besonderen Entstehungsgeschichte können die Angrite auch Aufschluss über das junge Sonnensystem geben. Unter anderem finden sich Hinweise auf die Beschaffenheit des Magnetfelds in der Materiescheibe aus Staub und Gas, aus der sich die Planeten und Asteroiden entwickelten.

Sturz ins Meer

Vor 150 Jahren, am 20. Jänner 1869, beobachtete der Arzt Joaquim Carlos Travassos, wie um fünf Uhr morgens ein Stein vom Himmel ins Meer fiel. Travassos war gerade mit einem Boot vor der Praia Grande in der Bucht von Angra dos Reis westlich von Rio de Janeiro unterwegs. Er wies zwei Sklaven, die ihn begleiteten, an, in der nur zwei Meter seichten Bucht vor der kleinen barocken Kirche Senhor do Bonfim nach dem Stein zu tauchen. Sie holten zwei Stücke an die Wasseroberfläche zurück. Ein drittes Stück, so wird heute vermutet, wurde damals nicht gefunden und verblieb auf dem Meeresboden. Eine Suche im Jahr 2013 blieb ergebnislos.

Vor der Capela do Senhor do Bonfim stürzte der Meteorit Angra dos Reis ins Meer.
Foto: Wikipedia/ElvisSoares

Die beiden Stücke sollen zusammen etwa 1,5 Kilogramm gewogen haben. Das kleinere mit etwa 445 Gramm wurde dem Richter von Angra dos Reis überlassen und kam schließlich im Jahr 1888 in die Sammlung des Museu Nacional.

Verschollenes Fragment

Der Verbleib des größeren Bruchstücks ist unklar. Es soll sich im Besitz von Travassos' Schwiegervater befunden haben. Ebenfalls 1888 wurde Papst Leo XIII. ein Meteorit namens Angra dos Reis geschenkt. Tatsächlich befindet sich ein Stück mit dieser Bezeichnung in einer Sammlung in der päpstlichen Sommerresidenz in Castel Gandolfo. Dabei handelt es sich jedoch um einen 13 Kilogramm schweren Eisenmeteoriten. Dies lässt Raum für diverse Spekulationen, von einer Fehletikettierung in Rom bis hin zu einer absichtlichen Täuschung. Damit wäre es denkmöglich, dass sich das Fragment noch immer in Brasilien befindet. Klären lässt sich das Schicksal wohl nicht mehr.

Vom verbliebenen kleineren Bruchstück wurden über die Jahrzehnte für Forschungszwecke und andere Sammlungen immer wieder Teile abgetrennt. Heute sind weltweit nur noch insgesamt rund 150 Gramm in diversen Kollektionen erhalten. Davon entfällt immer noch der Großteil auf die Hauptmasse im Museu Nacional: Diese wiegt alleine schon 70 Gramm.

Klein, unscheinbar, begehrt und mit bewegter Geschichte: der Meteorit Angra dos Reis.
Foto: Museu Nacional/Zucolotto

Verhinderter Diebstahl

Im Jahr 1997 war Angra dos Reis im Zentrum einer Diebstahlsaffäre. Zwei US-amerikanische Meteoritenhändler wurden am Flughafen von Rio de Janeiro unter dem Verdacht festgenommen, den unbezahlbaren Stein und zwei Stücke des Eukrits Serra do Magé aus dem Museu Nacional gestohlen zu haben. Die Polizei fand den Angra dos Reis in einem Schuh versteckt im Koffer eines der beiden Männer, als sie gerade einen Flieger nach New York via São Paulo nehmen wollten.

Die Händler – einer der beiden hat in der Community einen zweifelhaften Ruf, weil er sich Anfang der 90er-Jahre als Professor der Universität von Yale ausgegeben haben soll, um die ägyptische Bergbaubehörde zu täuschen und so zwei wertvolle Marsmeteoriten in seinen Besitz zu bekommen – hatten das Museum aufgesucht, um Tauschgeschäfte anzubieten. Ein Museumsmitarbeiter zeigte ihnen die Sammlung. Bei einem weiteren Besuch zwei Tage später wurde der Angra dos Reis in einem unbemerkten Moment gegen einen wertlosen Stein ausgetauscht. Die US-Amerikaner wurden schließlich nach 75 Tagen im Gefängnis gegen eine Zahlung von 25.000 Dollar entlassen. Sie rechtfertigten sich damit, dass sie hereingelegt worden seien, und behaupteten, die Meteorite seien in ihr Gepäck geschmuggelt worden. Sie beschuldigten die Kuratorin der Meteoritensammlung des Museu Nacional, die Steine in ihrem Gepäck platziert zu haben.

Schon damals war Maria Elizabeth Zucolotto Leiterin der Meteoritenabteilung. Sie hatte Verdacht geschöpft und den Diebstahl bemerkt und die Polizei verständigt – nachdem sie die beiden Händler zuvor noch persönlich zum Flughafen gefahren hatte.

Am Tag des Infernos versuchte Zucolotto die ihr anvertrauten Stücke zu retten. Doch die Feuerwehr wollte sie zunächst nicht ins Gebäude lassen – dann war es zu spät, weil bereits das obere Stockwerk brannte. Die Kuratorin fürchtete um ihr Leben und zögerte. Wenige Minuten später stürzten die Räume ein. So konnte sie nur 30 der 33 ausgestellten Meteorite vor dem Brand retten.

Angra dos Reis war wegen seiner Bedeutung jedoch nicht in der Schausammlung des Museums zu sehen, sondern in den Arbeitsräumen Zucolottos sicher verstaut. Die Forscherin wusste daher, dass es eine realistische Chance gab, den Stein wiederzufinden, falls er nicht beim Einsturz der oberen Stockwerke zerstört worden war.

Bendegó kann auch ein Großbrand nicht so rasch etwas anhaben.
Foto: A P /Izquierdo

Suche nach dem Steinchen im Schutthaufen

Bei seinem Eintritt in die Atmosphäre hatte Angra dos Reis weitaus höhere Temperaturen überstanden. Aber seine geringe Größe und poröse Konsistenz machen ihn zu einem empfindlicheren Objekt, als es zum Beispiel der Meteorit Bendegó ist. Diese fünf Tonnen schwere Eisenmasse thront in der Eingangshalle des Museums und hielt dem Feuer praktisch unversehrt stand.

Die Laborräume enthalten nach dem Brand besondere Gefahren.
Foto: Museu Nacional/Zucolotto

Angra dos Reis hingegen hätte durch herabfallende Trümmer zu Staub zerrieben oder bei den Aufräumarbeiten einfach mit dem übrigen Schutt entsorgt werden können. Auch ein erneuter Diebstahl war ein realistisches Szenario. Deswegen drängte Zucolotto darauf, so rasch wie möglich in ihr verwüstetes Büro in der Ruine des Museums zurückkehren zu können – idealerweise, bevor jemand anderer den Raum betreten konnte.

Doch Feuerwehr und Behörden verboten das Betreten des Gebäudes, und sie musste mehrere Wochen warten: Einsturzgefährdete Mauern mussten gesichert werden, und auch andere Probleme waren vorrangig zu bewältigen.

Der Raum neben Zucolottos Büro bietet seit dem Brand freien Blick auf den Himmel: Zwei Geschoße und das Dach sind eingestürzt.
Foto: Museu Nacional/Zucolotto

Gefährliche Aufräumarbeiten

Der Raum, in dem Angra dos Reis aufbewahrt wurde, liegt in der Nähe des Museumslabors. Dort waren Flaschen mit verschiedenen Säuren gelagert. Diese waren durch die große Hitze porös geworden und zerbrachen bei kleinsten Berührungen. Aus manchen traten Dämpfe aus. Zucolotto half bei der Neutralisierung der Säuren, ein gefährliches Unterfangen, da nicht immer klar war, um welche Chemikalien es sich genau handelte. Der Zugang zu Zucolottos Büro war darüber hinaus durch Schutt versperrt, darunter Stahlregale, die aus den darüberliegenden Stockwerken herabstürzt waren.

Am 22. Oktober schließlich konnte Angra dos Reis gemeinsam mit anderen Meteoriten aus dem Schutt gerettet werden. Erst drei Tage zuvor war die Bergung der Schädelknochen Luzias gemeldet worden. Die Überreste der mit 11.500 Jahren ältesten bekannten Bewohnerin Amerikas waren 1974 in einer Höhle in Lapa Vermelha in Belo Horizonte gefunden worden.

Maria Elizabeth Zucolotto bei der Bergung von Meteoriten aus ihrem zerstörten Büro im Museu Nacional.
vosatka

Angra dos Reis in Wien

Lange Zeit war Angra dos Reis überhaupt ein Unikat. Erst 110 Jahre nach seinem Fall wurde der zweite Angrit gefunden: Dieser wurde im Jahr 1979 von einem argentinischen Bauern beim Pflügen seines Feldes entdeckt. Der Meteorit D'Orbigny ist mit mehr als 16 Kilogramm der größte Angrit. Er wurde von Franz Brandstätter und Gero Kurat vom Naturhistorischen Museum Wien (NHM) mineralogisch beschrieben, das Typusexemplar befindet sich in Wien.

Von Angra dos Reis besitzt das NHM nur zwei kleine Stücke mit 3,75 respektive 2,04 Gramm. Beide befinden sich seit bereits mehr als hundert Jahren in der Sammlung, das größere davon kam ebenfalls im Jahr 1888 nach Wien. Trotz der geringen Größe liegt das NHM damit international auf dem vierten Platz: Neben dem Museu Nacional besitzen nur das Muséum national d'Histoire naturelle in Paris und das Smithsonian in Washington größere Exemplare des Angra dos Reis. Im Meteoritensaal des NHM liegt neben Angra dos Reis und D'Orbigny mit Sahara 99555 noch ein weiterer Angrit. (Michael Vosatka, 30.1.2019)