Die Gelbwesten in Frankreich seien ein Symptom, heißt es, das der EU die Effekte ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik vor Augen führe. Die Frage ist, ob deswegen Städte brennen müssen.

Foto: APA/AFP/LOIC VENANCE

Die ökonomische Lage vieler in der Europäischen Union ist prekär, die Zahlen sprechen für sich:

  • 24 Prozent der EU-Bevölkerung (über 120 Millionen Menschen) sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, darunter 27 Prozent der Kinder und 20,5 Prozent der über 65-Jährigen.
  • Beinahe neun Prozent der Europäerinnen und Europäer leiden unter materieller Armut – sie können sich keine Waschmaschine, kein Auto und kein Telefon leisten und haben auch kein Geld für Heizung oder unvorhergesehene Ausgaben.
  • Zehn Prozent leben in Haushalten, in denen niemand eine Arbeit hat.
  • Um zwölf Millionen mehr Frauen als Männer leben in Armut.

Diese Aussagen sind nicht etwa der Alarmruf von ewig Kritisierenden, sondern stammen aus offiziellen EU-Quellen. Als ärmliches Resultat schlägt die Europäische Union im Rahmen der Strategie Europa 2020 zwei Routen zur Armutsbekämpfung vor: besserer und treffsicherer Einsatz der Sozialausgaben der Mitgliedstaaten und soziale Investitionen, also Ausbildung, aktive Arbeitsmarktpolitik. Das reicht aber nicht.

Die Reallöhne stagnieren

Seit Jahren weist die EU als reichste Region der Welt eine Armutsgefährdungsquote von mehr als einem Fünftel der Bevölkerung auf, die kaum zurückgeht. Gleichzeitig stagnieren Reallöhne, und der Anteil der Löhne am EU-Volkseinkommen ist in den letzten zwanzig Jahren im Schnitt um zehn Prozentpunkte gefallen. Bis heute hat dies kaum zu politischen Gegenmaßnahmen geführt. Solange die sozialen Proteste gegen diese Entwicklungen auf einige NGOs und auf kleine Länder wie Griechenland beschränkt waren, wurden sie in der Kern-EU weitgehend ignoriert.

Erst das EU-feindliche populistische Auftreten der neuen italienischen Regierung, die Hintergründe des Brexits und besonders der Aufruhr der französischen (und belgischen) Gilets jaunes lässt die Europäische Union die Effekte ihrer Wirtschaftspolitik bemerken und an einigen Schräubchen drehen: So lässt die EU-Kommission zu, dass Frankreichs Budgetdefizit im nächsten Jahr wieder die Drei-Prozent-Grenze überschreitet, so einigt man sich mit Italien darauf, dass dessen Defizit im nächsten Jahr statt der von Italien geplanten 2,4 Prozent nunmehr 2,04 Prozent (!!!) des BIP betragen soll. Wie lächerlich will man sich noch machen? Und diese Maßnahmen sollen die tiefgehende Frustration der Bürgerinnen und Bürger, die zunehmende Verelendung, die extreme Ausgrenzung immer breiterer Bevölkerungsschichten in den Griff bekommen?

Was muss noch alles kommen, damit die politisch Verantwortlichen merken, dass ihr vielgelobtes, marktfreundliches Wirtschaftssystem an seine Grenzen gestoßen ist, dass es immer mehr Armut und Ausgrenzung produziert, dass es massiv die Umwelt schädigt und dass es vor allem den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der für das Weiterbestehen demokratischer Verhältnisse essenziell ist, schon tiefgehend erodiert hat?

Berufsprotestierer?

So lange sich die Proteste auf Entwicklungsländer und auf die oft gewaltsamen Proteste anlässlich von G7- und G20-Treffen und von Jahrestagungen von Währungsfonds und Weltbank beschränkten, konnte man sie "Berufsprotestierern" zuordnen und damit marginalisieren. Aber die Ausschreitungen in den französischen Banlieues und in englischen Vorstädten und nunmehr die Proteste in Frankreich zeigen, dass das Drehen an kleinen Schräubchen nicht mehr ausreicht.

Die Politik hat die Entscheidungen über die Wirtschaftspolitik den deregulierten Finanzmärkten überlassen. Permanent wird das "Vertrauen der Finanzmärkte" beschworen, das es jeden Tag neu zu gewinnen gilt. Die Bürger merken, dass sich die Politik von ihrer Gestaltungsverantwortung verabschiedet, dass sie sich Zahlenspielchen (drei Prozent Defizit, 60 Prozent Schuldenquote) als Hauptkriterien der Wirtschaftspolitik ausgeliefert hat und dass sie die Macht an die sich hundertfach vervielfältigt habenden Finanzvolumina und deren davon profitierende Akteure abgegeben hat. Dass diese nicht das Gemeinwohl, nicht die Wohlfahrt der vielen im Auge haben, sondern ihre eigenen Profitinteressen, haben wohl die Protestierenden verstanden, nicht aber die Wirtschaftspolitiker.

Blockierte Gremien

Die EU-Gremien sind durch das Brexit-Chaos weitestgehend blockiert. Eine vorausschauende Vision, wie man die Finanzmärkte zähmen und auf die ihnen zukommende Funktion, die Realwirtschaft zu finanzieren, zurückführen könnte, fehlt. Es fehlt an einer Handels- und Investitionspolitik, die nicht nur Effizienzkriterien zu erfüllen, sondern gleichwertig soziale und Umweltauswirkungen zu verbessern sucht. Und es fehlt vor allem an einer Strategie, wie die EU als zweitgrößter Wirtschaftsraum der Welt beitragen kann, eine regelbasierte Kooperation auf globaler Ebene beizubehalten.

Alle Akteure der EU müssen endlich begreifen, dass es zu einem weiteren "Aufstand der Massen" mit unabsehbaren Folgen für unser politisches System kommen wird, wenn nicht die Macht der Finanzmärkte gebrochen und zu einer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik übergegangen wird, die soziale, ökologische und wirtschaftliche Interessen zum Wohle der gesamten Bevölkerung adressiert. "Wehret den Anfängen" darf nicht nur ein an historischen Beispielen orientierter Slogan bleiben. Unsere Demokratie, die auf der Gesamtverantwortung des Staates und auf der Solidarität der Bevölkerung beruht, ist fragiler als viele Mainstream-Politiker denken. (Kurt Bayer, 24.1.2019)