Armin Thurnher, "Fähre nach Manhattan. Mein Jahr in Amerika". € 20,60 / 208 Seiten.Zsolnay, Wien 2019.

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Der Autor "ist ein Erzähler, der sich um die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit wenig schert". Das war wohl als Kompliment gedacht, sonst hätte der Zsolnay-Verlag das Zitat eines Germanistikprofessors nicht auf dem Umschlag von Armin Thurnhers neuem Buch Fähre nach Manhattan abgedruckt. In Zeiten von Fake-News allerdings klingt es, als ob der Autor mit Fakten fahrlässig umgehen würde, und das wäre der ganz falsche Eindruck.

Denn Thurnher, Mitgründer und Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, schaut in seinen Kommentaren sehr genau auf die Grenzen zwischen professioneller Recherche und Propaganda, zwischen überprüfbaren und "alternativen" Fakten. Und Thurnher, der Erzähler, der zur Abwechslung die Bühne der mühsamen politischen Analyse verlässt und schreiben kann, was und wie er will? Der macht es sich dennoch nicht leicht. Der Verlag nennt das Buch einen Roman, aber der Autor hat Autobiografisches im Sinn. Gleich zu Beginn schreibt er: "Wer spricht? Ich bin es." Doch diese erste Person, setzt er fort, ist eine Konstruktion aus Erinnerungen und Fantasie, der das Lesepublikum nicht trauen möge. Er versuche nur, lang Vergangenes aus seinem Leben ins Gedächtnis zu rufen, eine Reise in ein Königreich, von dem er nur eine vage Vorstellung hatte. Wer war er damals? Könnte er das heute mit Bestimmtheit sagen?

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Annäherung an eine pulsierende Gegenkultur im East Village: Um vom Collage Campus in den Big Apple zu kommen, nahm Armin Thurnher 1967 die Staten Island Ferry sooft er konnte.
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Ich ist bekanntlich ein anderer; oder, wie ein zwischen Gedachtem und Dokumentiertem lavierender Film über Bob Dylan heißt: I'm not there. Womit schon ein Stichwort gegeben ist. Denn das Königreich, das sind die Vereinigten Staaten in der vagen Vorstellung des Vorarlberger Maturanten, und einer der Fixsterne in dessen Fantasiewelt ist Dylan. Seine Bilder von einem Amerika der Bürgerrechte, der Boheme und des Blues hat der Ich-Erzähler ebenso verinnerlicht wie die Erzählungen eines früh ausgewanderten Großonkels und die Reize attraktiver US-Studentinnen auf Austauschsemester in Bregenz.

Nun ist er selber Stipendiat und fliegt im Spätsommer 1967 nach New York, um ein Jahr am Wagner College zu studieren. Planlos, "aufgebrochen wie in einen längeren Urlaub", rebellierend gegen die Idee eines Lebensplans.

Nerd aus Europa

Am ersten Tag steht er in der Cafeteria am Campus in seinem neuen beigen Schnürlsamtanzug vom Sagmeister und einer – gewagt! – schmalen weinroten Wollkrawatte, nur um festzustellen, dass er von den Studenten angestarrt wird, als wäre er vom Mond. Was er in gewisser Weise auch ist. Er, der Nerd aus Europa, begegnet muskelbepackten Jocks in T-Shirts und Jeans, und auch die Nerds hier haben nichts mit seiner Vorstellung von exzentrischen Bücherwürmen zu tun, und dann diese Cafeteria mit täglichen Bergen von Speisen, die er höchstens zu heiligen Zeiten vorgesetzt bekommen hat, wenn überhaupt – frische Ananas! -, und erst das Dormitory mit seinen seltsamen Riten zwischen Männerbündlerischem und Musikzirkus: Das alles ist nur der Anfang, die Initiation ins College-Treiben, noch nicht ins Leben außerhalb.

Das kommt erst. Schrittweise macht der Erzähler die Erfahrung, dass dieses Amerika anders ist, als er sich das vorgestellt hat. Der für damalige österreichische Verhältnisse progressive Katholik stand fest im westlichen Lager; die Welt war zwar ungerecht, aber der Krieg in Vietnam notwendig zur Eindämmung des Kommunismus, und Amerika war immer noch das Land der Freiheit.

Doch sein Zimmergenosse, der eine oder andere Professor und neue Freunde zeigen ihm Facetten der amerikanischen Wirklichkeit, die ihn zugleich verunsichern und faszinieren. Es sind Mosaiksteine, die sich zu keinem einheitlichen Bild zusammenfügen. Er erlebt alltäglichen Rassismus und unkomplizierte Freundlichkeit; Bildungsferne und mindestens so großen Bildungshunger; dumpfe Rituale und hochgestochene Debatten über Gesellschaftstheorie.

Gegenkultur und Chaos

Dazu kommt die Anziehungskraft des Zentrums von New York, die dem Buch den Titel gibt. Das College liegt in einem der fünf Bezirke der Stadt, in dem in jeder Hinsicht entferntesten, nur durch eine Fähre mit Manhattan verbunden. Diese nimmt Thurnher, sooft er kann. Und hier, zwischen den Wolkenkratzern und der damals noch pulsierenden Gegenkultur im East Village, im multiethnischen urbanen Chaos, spürt er die wachsende Entfernung, Entfremdung von seinen früheren Gewissheiten: "Die befreiende Kraft dieser sarkastischen Revolte!"

Die 67, manchmal nur wenige Absätze kurzen Vignetten des Buches lesen sich wie eine "éducation politique", ein Bildungsnichtroman. Thurnher beschreibt seine Erfahrungen in dieser neuen Welt schonungslos, manchmal auch ein wenig kokett. Von seinem "Manhattan-Blödigkeits-Blues" spricht er, von dem "unermesslichen Ausmaß meiner Ahnungslosigkeit". Doch dann kehrt er auch den Vorarlberger Jock hervor, den Skilehrer, Fußballkönner und Tenniscrack, der nebenbei souverän am Klavier improvisiert. Das liest sich wunderbar leichtfüßig, ein Page-Turner (Page-Thurnher – sorry for that one!).

Besonders aufschlussreich wird es, wenn es um die Bedeutung von Literatur, speziell von Poesie, für seine US-Erfahrung geht. Er ist zwar ohne Plan gekommen, aber Schreiben interessiert ihn schon lange, und das wird durch Begegnungen mit Literaten wie Edward Albee und durch die Lektüre von Dichtern wie William Carlos Williams, Allen Ginsberg oder Ed Sanders gefördert. Aufschlussreich auch, weil man sieht, wie motivierend und folgenreich Literaturvorlesungen in US-Colleges sein können – oder zumindest in den Sechzigerjahren waren.

Eine der Folgen zeigt sich in Thurnhers Schreibe. Während er noch beim Frühstück über seine Naivität in Sachen Americana nachdenkt, beginnt er, so erinnert er sich zumindest, zu delirieren: "Sunny side up, du Morgenrätsel, sei mir gegrüßt! (...) ihr Altäre aus Werbung, Brustwarzen, fransenbeklebt, Hochhäuser, helikopterumschwebt, Fähren und Frachter, (...) Puritaner, Poeten und Blut aus Platzwunden, Einschlusslöcher, Jazzmusik, Donuts, Milkshakes, Ginger Ale, Armut, Gewalt und Truthähne zu Thanksgiving ..." und so noch viele Zeilen weiter. Dylan und Ginsberg, schaut's oba!

Dylan und Ginsberg

Es sind die Wortkaskaden einer neugierigen Generation. Darum habe ich auch das Buch gelesen und nachher mit Armin Thurnher gesprochen. Ich war selber drüben gewesen, fünf Jahre später, und ich wollte Ähnlichkeiten ermessen. Es gab sie: Wir lernten beide vergessen, was wir zu wissen geglaubt haben; wir waren von der Metropole überwältigt und von wichtigen Begegnungen nachhaltig beeinflusst werden, na klar. Ein halbes Jahrzehnt später und an der Graduate School statt am College hieß aber auch: keine Schreiduelle auf Teach-ins, sondern gesittete Frage-Antwort-Rituale mit Herbert Marcuse; immerhin noch Watergate und Nixons Rücktritt, aber dann eine langsame Ernüchterung und der Beginn der konservativen Revolution.

Thurnher sagt, er habe eine "starke antitraditionalistische Linke" erlebt und das Buch geschrieben, "weil es mich geärgert hat, als Mitglied der 68er rubriziert zu werden von Leuten, die keine Ahnung haben, wovon sie reden". Ich dachte, auch die Stadtzeitung Village Voice würde eine Rolle spielen, die ihn zur Gründung des Falter inspiriert haben soll. Die habe ihn aber zunächst weniger interessiert als andere, radikalere Blätter, "das kommt vielleicht später".

Das war zu vermuten. Denn sein Buch heißt im Untertitel Mein Jahr in Amerika, handelt aber nur von seinen ersten vier Monaten in Staten Island und endet mit vielen Fragen. Folgebände sind geplant, man darf sich auf sie freuen. Da wird dann auch der legendäre Rockpalast Fillmore East auf der Second Avenue zu seinem Recht kommen, den er hier lobend erwähnt, den es aber im Herbst 1967 noch gar nicht gegeben hat, erst im Frühjahr danach. Wie gesagt, eine Konstruktion aus Erinnerungen und Fantasie. Als ich nach New York kam, war das Fillmore leider schon geschlossen. Aber das ist dann eine ganz andere Geschichte. (Michael Freund, Album, 26.1.2019)