Herbert Kickl ist ein alter Polithase. Der Innenminister weiß natürlich, dass die Europäische Menschenrechtskonvention nicht geändert wird, nur weil er in Österreich gerne Flüchtlinge ohne rechtskräftige Bescheide abschieben würde. Dafür müsste der Blaue alle 47 Mitgliedstaaten des Europarates auf Linie bringen, was realpolitisch Science-Fiction ist. Er scheitert ja schon daran, Fortschritte im europäischen Asylrecht zu erzielen.

Deshalb redet der Minister auch gerne um den heißen Brei herum. Er schwurbelt davon, dass man "Dinge aus den 50ern" hinterfragen müsse, und sorgt für einen breiten Aufschrei, weil er sagt: "Das Recht hat der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht." Jene, die ihn böswillig interpretieren, sehen darin ein pauschales Rütteln am Rechtsstaat und wollen erst gar keine inhaltliche Auseinandersetzung führen.

Keine Tabus

Das ist allerdings ein Fehler. Tabus sind in der Politik selten zielführend. Wir sollten daher ehrlich darüber diskutieren, wohin die Reise geht, wenn man Kickls Überlegungen zu Ende denkt. Da die Konvention auch Basis für die EU-Grundrechtecharta ist und sie als Leitschiene für den Europäischen Gerichtshof dient, bliebe am Ende des Tages nur eine Möglichkeit übrig, um ihr nicht mehr unterworfen zu sein: der Austritt aus der EU, also der Öxit. Darauf sollte bei jeder Gelegenheit hingewiesen werden.

Darüber will die FPÖ aber nicht so gerne sprechen. Deshalb behauptet Kickl jetzt, nie die EMRK infrage gestellt zu haben, obwohl er natürlich genau das getan hat (wie übrigens auch FPÖ-Chef Strache zuvor). Das Zaudern hat einen einfachen Grund: Seit Jahren ist eine große Mehrheit der Österreicher und Österreicherinnen für einen Verbleib in der Union. Vor allem seit dem Chaos um den Brexit denkt niemand ernsthaft über einen Öxit nach. Klar ist auch: Sobald die FPÖ mit offenen Karten spielte, wäre es aus mit der türkis-blauen Koalition. So weit reicht die Selbstverleugnung der ÖVP dann doch nicht.

Grenzen des Rechtsstaates

Diskutieren sollten wir aber auch darüber, wie glaubhaft es ist, wenn Kanzler Sebastian Kurz nach zwei Schrecktagen dem Innenminister in einem Telefonat "klar seine Meinung" sagt und hofft, dass der diese auch akzeptiert. Dieselbe Volkspartei, die sich jetzt im EU-Wahlkampf als Pro-Europa-Partei präsentiert, hatte kein Problem damit, sehenden Auges in ein EU-Vertragsverletzungsverfahren wegen der Indexierung der Familienbeihilfe zu laufen. Sozialkommissarin Marianne Thyssen musste Wien daran erinnern, dass es "keine Kinder zweiter Klasse in der EU" gibt. Auch die Schlechterstellung von Flüchtlingen in der Mindestsicherung will die Koalition trotz rechtsstaatlicher Bedenken von Experten durchziehen.

Nun kann man natürlich argumentieren, etwas sei erst dann rechtswidrig, wenn nationale oder internationale Gerichte das feststellen. Wenn es aber darum geht, die Grenzen des Rechtsstaates auszureizen, steht die ÖVP der FPÖ nicht nach. Im Gegenteil: Während Kickl im Abstrakten bleibt, hat die beschlossene Kürzung der Familienbeihilfe für osteuropäische Arbeitskräfte bereits ganz reale Auswirkungen. Seit 1. Jänner sehen diese Menschen die Einbußen auf ihrem Konto.

Bis zur EU-Wahl am 26. Mai wird die Kanzlerpartei offensichtliche Widersprüche zwischen ihrer Pro-Europa-Wahlkampagne und ihrem Handeln zu vermeiden versuchen. Das ist der Erfolg von Othmar Karas, den Kurz aus Angst vor dessen Parteiaustritt aufstellen musste. Nach der Wahl werden Kurz, Strache und Kickl dann wieder im Gleichklang die Rechtsstaatlichkeit auf die Probe stellen. (Günther Oswald, 25.1.2019)