Jö, schauts, wie schön der Justizpalast brennt: die Qualtinger-Figuren Michael Scherff, Tobias Artner, Tim Breyvogel, Hanna Binder und Josephine Bloéb (v. li.).

Foto: Alexi Pelekanos

Gut 30 Jahre nach seinem Tod hat sich Helmut Qualtinger (1928–1986) wieder unter die Mitbürger gemischt, in Gestalt des Herrn Karl. In dessen feistem Körper waren die bornierten Seiten der heimischen Mentalität 1961 schon einmal Fleisch geworden. Qualtinger und sein Koautor Carl Merz hatten die Gesinnungsbrocken tausender NS-Mitläufer sorgfältig zusammengeknetet. Aus diesen wurde eine soziale Plastik, die Monumentalfigur der Niedertracht.

Die Karl-Figur ist nicht mehr jung, aber quicklebendig. Sie sitzt in Gestalt des Schauspielers Michael Scherff keifend im Parkett des Niederösterreichischen Landestheaters in St. Pölten. Der angekündigte Abend, betitelt mit Quasi Jedermann – Helmut Qualtinger, der Menschenimitator, werde schon etwas Rechtes werden. Ihm brauche man jedenfalls nichts zu erzählen. Der Herr im kleidsamen C&A-Pullover schwingt sich zustimmungsheischend auf die Bühne. Früher hieß es, den Hanswurst könne keiner erschlagen. Heute muss man sagen, das Nämliche gilt leider auch für die Erscheinungsformen menschlicher Erbärmlichkeit.

Zähnefletschend heiter

Christina Tscharyiskis (Regie) Abend liegt denn auch goldrichtig: Er ist zähnefletschend heiter. Man muss nur sehr genau hinhören, um auf und neben einem Kiosk mit Würstelstand und Blumenhandlung (Bühne: Sarah Sassen) die Stimme des Gewissens mitfauchen zu hören.

Früher war alles eindeutiger, auch grauenerregender. Einem jungen Besucher erzählte der schwitzende Herr Karl einst mit larmoyanter Stimme, wie es dazu kommt, dass man wird, was man ist. Ein minderbelasteter Wendehals war da zu sehen, der, um ganz bei sich zu sein, unentwegt die Seiten wechselt.

Nie wurde die heimische "Banalität des Bösen" eindrucksvoller kenntlich gemacht. Die Österreicher amüsierten und gruselten sich abwechselnd. Sie fanden aber im Übrigen, der Herr Karl sei jemand, der sie – außer zur Erfüllung niedriger Amüsierzwecke – im tiefsten Inneren nichts angehe.

Unter dieser besonders hartnäckigen Form der Schuldabwehr hat Qualtinger bis zu seinem frühen Tod gelitten. In St. Pölten hat die alte Verstocktheit mit dem jugendlichen Leichtsinn Platz getauscht. Wir sehen: nicht nur den alten Karl, dem alle Menschen "z’wider san" ("Des is’ vom Sinowatz, äh, Sowinetz"). Wir erhalten Einblicke in Qualtingers Figurenskizzenbuch und rekapitulieren: Hätte er nur mehr geschrieben, der "Quasi", er wäre Horváth würdig an die Seite zu stellen.

Abend mit Struktur

Es bleibt jedoch genug für uns übrig. Reihum gehen die Textfetzen aus dem Karl. Er verschafft dem famosen Abend Struktur. Eine besonders nachkriegsfrische Erscheinung ist die junge Sängerin (Hanna Binder) als lebende Jukebox: Sie stimmt in ungefähr eineinhalb Minuten zirka 38 Fifties-Schlager an. Das muss ihr erst jemand nachmachen.

Wir sehen Hetzmeuten, die den Justizpalastbrand begaffen. Wir sehen Couleurstudenten, die wissen, wie sie es sich richten müssen: "Ich red’ mit dem Kanzler. Ich hab’ sein Ohr." Eine Prostituierte (Josephine Bloéb) unterweist einen Blumenhändler lebhaft in die Gepflogenheiten des heimischen Wahlrechts.

Man staunt, wie taufrisch diese Gelegenheitstexte daherkommen. Über allen Gemeinheiten aber schweben die Klänge des Musiktrios Wiener Blond, das Qualtingers O-Töne geschmeidig, mit zitternden Basssaiten, nachempfindet: "Lieber a Leber voi Gift / ois a Pantscherl, des eh kaan mehr g’freut". Jede Strophe eine Aufforderung zum Selbstschämen. Jeder Zungenschlag eine scharfe Züchtigung. So frech, wie uns Scherff und Co in St. Pölten anreden, hat uns Helmut Qualtinger alle mitgemeint. Es ist Zeit, uns seiner resignativen Einsprüche wie einer Medizin zu besinnen. Wie eines kleinen Gulaschs, eines Seidels. Weil nur dann ist wieder "ois leiwand". (Ronald Pohl, 28.1.2019)