So wie Emmanuel Macron mit den Bürgermeistern sollen die Franzosen miteinander über die Zukunft des Landes diskutieren.

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Sie sind zu fünft. Genug, um die Welt zu verändern – oder zumindest Frankreich: Alexandre, Elina, Baptiste, Doifiri und Romain haben sich an diesem böigen Abend in der Videobar "Play to Win" von Le Havre eingefunden, um ihren Beitrag zur "großen nationalen Debatte" zu leisten, die der Staatspräsident Mitte Jänner ausgerufen hat. "Ich wartete zwei Wochen lang auf eine Veranstaltung in Le Havre", erzählt Alexandre, der 29-jährige Wirt. "Als ich merkte, dass in unserer Stadt niemand die Initiative ergreift, habe ich über Facebook selbst einen Abend ausgerufen."

Gekommen sind vor allem Stammkunden, die sich sonst lieber mit der Playstation als mit Politik befassen. Nach einer Aufwärmpartie mit dem Spiel "Fallout" ruft Alexandre zur Diskussion. "Frankreich muss sein politisches System überdenken", meint Baptiste (26), Arbeiter in der Renault-Fabrik von Sandouville. "Die Leute haben kein Vertrauen in die Politik, sie gehen nicht mehr wählen. Und wenn sie es tun – wie 2005, als sie gegen die EU-Verfassung stimmten -, wird ihr Votum vom Parlament umgestoßen."

Von einem anderen Planeten

Doifiri (25) nickt: "Auch deshalb gehen die Gelbwesten auf die Straße. Sie glauben nicht mehr an die Politiker in Paris. Denn die leben aus ihrer Sicht auf einem anderen Planeten", meint der Gelegenheitsarbeiter von den Komoren, der auf einen Job am Kiesstrand der trostlosen Hafenstadt am Ärmelkanal hofft. "Gefährlich ist, dass die Gelbwesten selbst nicht wissen, was sie wollen."

Die Gamer wissen besser, was zu tun wäre: "Wir leben in einer Republik mit einem Wahlmonarchen", meint Alexandre. "Das geht nicht mehr. Daher mein einfacher Vorschlag: Parlamentswahl statt Präsidentenwahl! Der Staatschef würde zu einem bloßen Ergebnis der parlamentarischen Mehrheit – und wäre ihr untergeordnet. Heute ist es umgekehrt. Das sorgt für ständigen Ärger in einem Land mit einer revolutionären Ader."

Elina, die 20-jährige Köchin der Bar, wendet ein, das würde die Misere der Gelbwesten nicht bessern. Wie diese will sie mehr Volksabstimmungen. "Man müsste den Gelbwesten aber klarmachen, dass man nicht Steuern senken und zugleich Sozialausgaben erhöhen kann", meint Mathematikstudent Romain (22). "Wenn sie höhere Pensionen wollen, müsste man letztlich auch das Pensionsalter anheben. Aber die Franzosen wollen nicht mehr arbeiten."

Baptiste, gewerkschaftlich organisiert und soeben von einer Zigarettenpause zurück, lässt das nicht gelten: "Zuerst muss Macron die Reichensteuer wieder einführen – sonst läuft in Frankreich gar nichts mehr. Vive la révolution!"

Nicht alle sind einverstanden damit. Es wird laut in der Bar. Elina schlichtet den Disput mit ihrer Spezialität: Mitternachtspizza.

Hunderte Treffen im Land

Mehrere hundert solcher Treffen werden in Frankreich noch bis Mitte März auf Initiative von Präsident Macron abgehalten. Oft laden die Bürgermeister zur Debatte. Ein elsässischer Abgeordneter hat sogar eine Diskussion im TGV-Zug Straßburg-Paris inszeniert.

Manchmal werden auch einzelne Bürger aktiv: In den Pyrenäen haben die Präsidenten eines Tennisclubs zum Gespräch aufgerufen. In Toulouse hat eine Frau namens Emilie "Freunde und Nachbarn" eingeladen, um über den Klimawandel zu reden. In Paris organisiert das Altersheim Dosne eine hausinterne Debatte: Auch die Ältesten sollen an der nationalen Gesprächstherapie teilhaben.

Die vier großen, von Macron vorgeschlagenen Themen der Debatte sind: Steuern, Klima, Demokratie und öffentlicher Dienst. Aber daran braucht man sich nicht zwingend zu halten. "Eine Republik oder eine Monarchie für Frankreich?", heißt daher ein Gesprächsabend; ein anderer "Unser Feind, die Finanz"; ein dritter "Die Welt nach der Logik des Geldes". Und ein Organisator fragt: "Revolution unwahrscheinlich – Demokratie unmöglich?"

In Bures-sur-Yvette, an der südlichen Peripherie von Paris, bestimmen an diesem Abend die 70 Anwesenden die Gesprächsthemen. Moderator Erick, ein weißhaariger Herr, betont, er sei weder vom Gemeinderat beauftragt worden, noch gehöre er zu Macrons Partei "La République en Marche" (LRM). Das Porträt des Staatspräsidenten an der Wand des Gemeindesaals gehört ebenso zum Inventar wie die Büste der Nationalfigur Marianne.

Erstes Thema: die Institutionen. Es wird vorgeschlagen, das Abstimmen für obligatorisch zu erklären, die Leerstimmen zu zählen oder Gemeinderäte per Los zu wählen, um die Bürger einzubeziehen. Ein älterer Mann stellt sich als Joseph vor und sagt: "Ich trage seit Jahren eine Idee mit mir herum: Ich finde, dass Eltern mit Nachwuchs je nach der Zahl ihrer Kinder mehr Wählerstimmen erhalten sollen."

Erstaunlich ist, dass das Thema Volksinitiativen und -abstimmungen, das den Gelbwesten so am Herzen liegt, hier nur Skepsis weckt: "Frankreich ist nicht die Schweiz", resümiert ein Mann lapidar, und viele machen sich Notizen wie beflissene Studenten.

Es folgen noch die Themen Laizismus und Bürgerengagement. Von den "gilets jaunes", die doch der Grund der ganzen nationalen Debatte sind, spricht seltsamerweise niemand. Dabei wäre die Pariser Peripherie eigentlich ein typisches Gelbwestenland. In den Gemeindesaal sind aber fast nur besorgte Bildungsbürger gekommen, keine aufmüpfigen Protestler. Diese bleiben in ganz Frankreich auf Distanz zur nationalen Debatte und sagen in den Medien, das alles sei eine "PR-Aktion", eine "Wahlübung", eine "große Lüge".

Kein Gelb in den Vorstädten

Auch im Pariser Vorort Asnières-Nord ist kein Neongelb auszumachen. Dabei wäre in dem düsteren Viertel mit seinen 16-stöckigen Wohnblöcken an diesem Freitagabend eine abendliche Debatte über die "gilets jaunes en banlieue" angesagt. Mangels Interesse sei sie abgesagt, teilt die Leiterin des Kulturzentrums mit. Schade – seit Wochen hört man zur Gelbwestenkrise keine Stimmen aus den Trabantenstädten.

Auf der schlecht beleuchteten Avenue de la Redoute warten nur drei Burschen vor einer Bäckerei auf bessere Zeiten. Was sie von den "gilets jaunes" halten? "Journalist?", fragt ein Schwarzer mit Kapuze zurück. "Öffne deine Jacke, hast du da eine versteckte Kamera?" Nein. Nochmals die gleiche Frage. "Mit den Gelbwesten haben wir nichts zu tun. Die glauben naiverweise, sie könnten etwas erreichen", antwortet ein Maghrebiner. "Dabei ist der Krieg doch längst verloren."

An der Haltestelle der Buslinie 165 lacht ein Mann mit kugelrundem Kopf wegen der Frage nach Macron. "Diese Debatte erinnert mich an mein Heimatland Kamerun, wo der Herrscher so tut, als gebe er dem Volk sein Wort. Macron ist ein Banker, er blutet die Franzosen aus und sollte sich nicht wundern, dass sie sich wehren. Frankreich ist schließlich das Land der großen Ideen, es hat eine sozialistische Kultur, keine kapitalistische. Und die Bürger lassen sich nicht unterkriegen."

Hat er eine konkrete Idee, was Frankreich tun sollte? Die Dame neben ihm antwortet rascher als er: "Zuerst sollten die Gelbwesten etwas Respekt lernen. Wenn sie so früh aufstehen müssten und abends so spät nach Hause kämen wie ich, wären sie am Wochenende zu müde, um sich noch mit der Polizei herumzuschlagen. Die gehen einfach zu weit."

Macron hat ein unausgesprochenes Ziel bereits erreicht: Er hat Druck von sich weggenommen, die Dinge mit der Debatte in eine ruhigere Bahn gelenkt – und viele Franzosen gegen die Gelbwesten eingenommen.

Sein Vorgehen birgt aber auch ein Risiko: Im April muss er Schlussfolgerungen aus der Debatte ziehen, Beschlüsse bekanntgeben. Die Erwartung ist enorm – und die Gefahr groß, dass er seine Mitbürger enttäuschen wird. Sie machen viele originelle, kreative, zum Teil hochtrabende Vorschläge. Mit halben Maßnahmen werden sie nicht zufriedengeben. (Stefan Brändle aus Le Havre, Bures-sur-Yvette und Asnières-Nord, 2.2.2019)