Francis Fukuyama, "Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet". Übersetzt von Bernd Rullkötter. € 22,70 / 240 Seiten. Hoffmann & Campe, 2019

Identität. Würde. Respekt. Nachdem der Anstand sich in den vergangenen Jahren aus der politischen Arena verabschiedet hat, sind diese Begriffe zu Schlagworten unserer Zeit konvertiert. Gern werden sie auch mit anderem kombiniert, zu Identitätspolitik etwa.

Sie sind die Emotionsknöpfe, die Würdeverlust, Empörung und Wut aufleuchten lassen. Selbst die englische Königin sah sich jüngst bemüßigt, für einen respektvollen Umgang zu plädieren. Oder wie sie es formulierte, für das "erprobte und altbewährte" Mittel, "gut übereinander zu sprechen und verschiedene Meinungen zu respektieren, zusammenzukommen, um Gemeinsamkeiten zu finden und niemals das größere Bild aus den Augen zu verlieren".

Gerade weil das Gegenteil in den politischen, den öffentlichen und auch den zivilgesellschaftlichen Diskurs Einzug gehalten hat, scheint Francis Fukuyamas Buch über Identität, Würde und Demokratiegefährdung zur richtigen Zeit zu erscheinen.

Der 67-jährige US-Amerikaner war lange für die RAND Corporation tätig, einen der großen Thinktanks, Politikberatungs- und Denkfabriken, immer wieder auch in der Reagan- und George-Bush-Sr.-Regierung, bevor er ganz in die Lehre überwechselte, erst an die Johns Hopkins University in Baltimore, 2010 an die Stanford University in Nordkalifornien. Mit 40 wurde er zum Star der Politikwissenschaft. Damals, im Jahr 1992, erschien in vielen Ländern sein Buch Das Ende der Geschichte. Entwickelt aus einem Zeitschriftenaufsatz, proklamierte er den finalen Sieg der liberalen Demokratien, die allen anderen, autoritären Konkurrenzsystemen auf alle Zeit weit überlegen seien.

Francis Fukuyama: ehrgeizig eine komplexe Materie auf 213 Seiten abgehandelt.
Foto: Djurdja Padejski

Die Zwischenzeit hat ihn gründlich widerlegt. Er war klug genug, sich selbst geschmeidig zu revidieren. Nachdem seine letzten drei Bücher nicht übersetzt worden waren, hat nun der Hoffmann-und-Campe-Verlag bei Identität zugeschlagen und es rasch, aber gut von Bernd Rullkötter eindeutschen lassen.

Tief im Mainstream

Tatsächlich aber mutet sein Band wie eine längere Fleißstudie eines Politikberaters an. Es ist eine globale Promenade, die Fukuyama absolviert, von Tunis zum Kiewer Maidan, von der Black-Lives-Matter-Bewegung über den Brexit bis nach China. Dabei scheut er eines: aus dem Mainstream auszuscheren. Man findet Bemerkungen zu Populismus und zum Aufstieg illiberaler Demokratien, man liest über das Verdunsten der sozialdemokratischen Wahlklientel, man findet Einschätzungen darüber, was zum Ausgang der letzten US-Präsidentschaftswahl führte. Das ist alles weidlich und ausdauernd bekannt. Fukuyama ist als Autor wie als Analytiker ein Minderaufreger. Kaum hat es den Anschein, es könnte gleich etwas Originelles auftauchen, tariert er dies mit abgewogener Kritik aus und dämpft alles auf polittherapeutisch Gutverdauliches herab, inklusive wolkiger bis irrealer Lösungsvorschläge am Ende.

Angesichts der Länge beziehungsweise Kürze der 14 Kapitel, zehn bis zwölf Seiten jeweils, lässt sich nicht zur Gänze der traurige Verdacht wegwedeln, es handle sich hierbei um aufbereitete Vorlesungen. Kurz imaginiert man Fukuyama als Redner, und: Ja, es dürfte beim Hören interessant klingen, was er vorbringt. Beim Lesen hingegen stellen sich zahlreiche Fragen, erweist sich vieles, was er vorbringt, als konfliktbefreit und bieder. Philosophisch bietet er zu wenig. Psychologisch bietet er erst recht zu wenig. Manchmal überverkürzt sind die Rundgänge durch Europas Geschichte. Da ist in jeder Hinsicht Kwame Anthony Appiahs The Lies That Bind. Rethinking Identity, in den USA zeitgleich erschienen, tiefer und anregender.

Ehrgeizig und unambitioniert

Kurioserweise trifft sich Fukuyama in einem Punkt mit der linksliberalen Philosophin Martha Nussbaum aus Chicago: und zwar in der Forderung, einen Gesellschaftsdienst einzuführen. Auch sie fordert in ihrem neuesten Buch Königreich der Angst neben der Fürbitte einer selbstreflexiven taktvollen Debattenkultur, die bei Fukuyama als Aufhebung der politischen Parteiblockaden aufscheint, eine obligatorische mehrjährige Dienstpflicht für alle ein, als Wehr- oder als Zivildiener. So würde – hehre idealistische Vision – eine Vermischung aller Gruppen, Gruppierungen und Ethnien stattfinden. Woraus mehr als nur Toleranz erstehen würde, vielmehr, ach, Gerechtigkeit, Versöhnung, Hoffnung.

Dass Fukuyama mit einem Zitat- und Literaturanhang noch akademische Standards erfüllt, mag löblich sein. Da findet sich einiges an weiterführender Lektüre. Doch gleichzeitig zitiert er direkt nur aus 30 bis 60 Jahre alten Büchern von Philosophen und Kultursoziologen, und so mutet dies irritierend, ja seltsam an.

Ehrgeizig ist es allemal, eine derart komplexe Materie auf 213 Textseiten abzuhandeln. Aber seine Darstellung ist merkwürdig unambitioniert. Es fehlen Schärfe, Pointiertheit, auch, bei einem Amerikaner auffällig, die entspannten Prisen autobiografischer Anekdoten. Eine erste Einführung ist dieser Band, mehr nicht. (Alexander Kluy, 2.2.2019)