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Der Brexit treibt auch die hohe Geistlichkeit auf den Britischen Inseln um. John Sentamu, Erzbischof von York, verfasste sogar ein eigenes Gebet, durch das die Politiker Erleuchtung erfahren sollen.

Foto: REUTERS/Lynne Cameron

Über den Brexit herrscht auf der Insel Uneinigkeit allerorten – und natürlich ist das auch in den Kirchen nicht anders. Höchstens die Einschätzung des katholischen Bischofs von Portsmouth teilen die meisten Briten über alle Konfessionsgrenzen hinweg: Das Land stecke, das findet Philip Egan, in "einem erstaunlichen Schlamassel".

Bei den Anglikanern wurde jetzt eigens das Fürbittgebet erweitert. Für das Staatsoberhaupt wird in den Kirchen der Church of England ohnehin jeden Sonntag gebetet – immerhin amtiert Königin Elizabeth II gleichzeitig als weltliches Oberhaupt der Staatskirche. Nun soll in Gottesdiensten landauf, landab neben der Queen ausdrücklich auch des Parlaments sowie der lokalen Unterhausabgeordneten gedacht werden. In einem Mustergebet wird die höchste Instanz sogar dazu aufgerufen, "unsere parlamentarische Demokratie zu retten".

Sorge macht sich breit

Der Verfasser des Gebetes, John Sentamu, präsidiert als Erzbischof von York dem Norden Englands. Mit seinem Kollegen Justin Welby, dem Erzbischof von Canterbury, hat Sentamu eine dringliche Debatte für die Generalsynode diesen Monat beantragt: Beraten wird über die soziale Spaltung des Landes, "die so festverwurzelt wirkt wie seit vielen Jahren nicht mehr". Ultimativ werden die Damen und Herren Politiker zur "Zusammenarbeit für das Gemeinwohl in dieser Zeit der Spaltung" aufgefordert.

Ähnlich formulierte es Mitte Jänner auch der koptische Erzbischof Angaelos, der dem ökumenischen Bündnis christlicher Kirchen in Britannien und Irland (CTBI) vorsteht. Kein Zweifel: Die Kirchenoberen machen sich Sorgen. Zwar erwähnen sie den Brexit nicht ausdrücklich – doch das Thema dominiert alle Diskussionen. Einen Konsens gibt es allerdings nicht. Als neulich im Oberhaus abgestimmt wurde – wo von Amts wegen 26 anglikanische Bischöfe einsitzen -, stimmten vier der anwesenden Geistlichen einem Tadel für die Brexit-Politik von Premierministerin Theresa May zu.

Um Himmels willen

Bischof Sentamu entschied sich dagegen: Der Europa-Experte in der Gruppe der 26, Nick Baines aus Leeds, brachte ein zweites Referendum ins Spiel. "Um Himmels willen!", hält sein Oxforder Kollege Steven Croft dagegen: "Das würde die Lage nur verschlimmern." Die Spaltung der Gesellschaft geht auch mitten durch die Kirchenbänke, trennt nicht zuletzt die meisten Hirten von vielen ihrer Schafe.

Die Religionssoziologin Linda Woodhead von der Universität im nordenglischen Lancaster hatte für den Tag des Referendums eine Nachwahlbefragung von 3242 Menschen im gesamten Königreich organisiert – genug, um statistisch ergiebiges Material für England mit seinen 55,6 Millionen Einwohnern (von insgesamt 66 Millionen) zu erhalten.

Zum Vorschein kam eine starke Diskrepanz zwischen der Gesamtbevölkerung und bekennenden Anglikanern: 53 Prozent aller Engländer stimmten für den Austritt, unter den Staatskirchlern waren es zwei Drittel. Auch Katholiken entschieden sich mehrheitlich (55 Prozent) für den Austritt.

Hingegen favorisierten die Angehörigen kleinerer christlicher Kirchen sowie all jene, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, mit 53 Prozent den Verbleib in der EU. Eine der Ursachen für die starke EU-Gegnerschaft könnte die Überalterung der Kirche sein: Gläubige der Anglikaner sind älter als die Gesamtbevölkerung – und ältere Menschen votierten stärker für den Austritt.

Die Europaskepsis von Teilen des Kirchenvolks findet bis heute wenig prominente Fürsprecher. Zu den Wortgewaltigsten zählt Pfarrer Giles Fraser von der Südlondoner Gemeinde Newington. "Um frei von Brüssel zu sein, würde ich Gras essen", schrieb der frühere Domherr der St.-Pauls-Kathedrale schon vor dem Referendum. Mittlerweile lobt Fraser die "kreative Zerstörung des Brexits" und tritt für einen Austritt ohne Vereinbarung ein. Hingegen hält der Erzbischof von Canterbury diesen Chaos-Brexit für katastrophal: "Es wäre ein moralischer Fehler, genauso schwerwiegend, wie wenn wir das Resultat des Referendums ignorieren würden", glaubt Justin Welby.

Pfarrerstochter May

Die politischen Parteien droht der Brexit zu zerreißen, die Staatskirche hingegen wird in der Diskussion eher ignoriert. Die Premierministerin und Pfarrerstochter Theresa May hat Welbys Idee einer Brexit-Kommission ebenso ignoriert wie die jüngsten – als fromme Gebetswünsche getarnten – Aufforderungen. Das hat mit dem immer weiter sinkenden Einfluss der Kirchen zu tun. Gerade noch 20 Prozent der Bevölkerung definieren sich als Anglikaner, nur knapp die Hälfte als Christen. Dementsprechend gering bleibt das Interesse der Medien.

Mag die Sprach- und Kompromisslosigkeit der beiden Brexit-Lager auch zunehmen: Den Kirchen, so scheint es, wird von der Gesellschaft kaum zugetraut, zur Überwindung der Gräben beizutragen. (Sebastian Borger aus London, 5.2.2019)