Mixed-Reality Brillen werden unsere Art zu leben und zu arbeiten komplett umkrempeln, sagt Buchautor Markus Albers. Gesteuert werden könnten sie möglicherweise über unsere Stimme.

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Das erste Mal, um den Wecker auszuschalten, das letzte Mal, um noch schnell eine Whatsapp-Nachricht zu verschicken: 88 Mal pro Tag greifen Menschen durchschnittlich zu ihrem Smartphone, wie deutsche Forscher herausgefunden haben. Und wenn sie es einmal weglegen, sitzen sie im Büro vor dem Computer oder mit dem Tablet in der Hand vor dem Fernseher. Ein digitaler Dauerstress.

Doch die Zeit der Bildschirme neigt sich womöglich dem Ende zu, das sagt zumindest der Unternehmer Markus Albers. In seinem Buch "Digitale Erschöpfung" beschreibt er, wie ihn seine Abhängigkeit vom Smartphone dazu veranlasst hat, nach Alternativen zu suchen. Ein ganzes Kapitel widmet er Technologien, die es ersetzen könnten: Virtual und Mixed Reality. Bei der virtuellen Realität, kurz VR, taucht der Nutzer mittels Datenbrille in eine komplett andere Welt ein. Er kann nach Machu Picchu oder durchs Weltall reisen. Bei der Mixed Reality sieht man seine Umgebung wie sonst auch, virtuelle Elemente – Bilder, Text oder anderes – werden als Hologramme zusätzlich vor den Augen eingeblendet. MR-Brillen gleichen futuristischen Sonnenbrillen.

Sechs virtuelle Monitore

Jeder, der das schon einmal ausprobiert hat, ist von der Erfahrung überwältigt. Deshalb werden die Datenbrillen bereits in der Unterhaltung, der Werbung und für Ausbildungszwecke eingesetzt. Und bald möglicherweise auch in anderen wichtigen Lebensbereichen wie der Arbeit, schreibt Buchautor Albers. Er stützt sich auf die Einschätzung vieler Experten, beispielsweise des Technikvordenkers Kevin Kelly. Der Gründer des Magazins "Wired" hat für einen Artikel VR- und MR-Brillen im großen Stil getestet und kommt zu dem Schluss: "Wenn sie die Realität einmal perfekt abbilden, werden sie alle anderen Technologien ersetzen."

Was ist dran? Werden wir bald mit den Datenbrillen im Bus sitzen? Im Büro, statt den Computer einzuschalten, uns unsere E-Mails vor die Augen projizieren lassen?

Was dafür spricht: Fast alle großen Technologiekonzerne investieren in die Weiterentwicklung der Technologie. Microsoft arbeitet etwa daran, dass sich Mitarbeiter Outlook, Word, Excel und Co in 3D anzeigen lassen können. Ein Demovideo zeigt ein Meeting, bei dem alle Teilnehmer eine Datenbrille tragen.

Das Schanghaier Unternehmen Pygmal Technologies hat eine Software namens Space vorgestellt. Mit einer VR-Brille kann sich der Nutzer sechs riesige virtuelle Monitore gleichzeitig anzeigen lassen, zwischen denen er hin- und herspringen kann. Ein Journalist des Tech-Magazins "Fast Company", der die Applikation ausprobiert hat, kommt allerdings zu einem ernüchternden Ergebnis: Nach wenigen Minuten tat ihm der Nacken weh, und das Bild wurde unscharf.

Beispiele für Mixed Reality.
IamVR Official

Mankos wie diese seien der Grund, warum sich die Technologie bisher noch nicht durchgesetzt hat, sagt Matthias Husinsky, Professor für Digitale Technologien an der Fachhochschule St. Pölten. Die bisher vorgestellten Produkte sieht er erst als Vision dessen, was künftig möglich sein wird. Sie müssten technisch erst verfeinert werden. Bei MR-Brillen zum Beispiel sei der Bereich, in dem man Informationen einblenden kann, relativ klein. "Der Mensch hat, wenn er geradeaus sieht, ein Blickfeld von etwa 180 Grad. Diese Displays können aber nur 30 bis 40 Grad ausnutzen." Zudem seien die Geräte klobig. "Man muss schon mutig sein, so etwas im Alltag zu tragen, weil man heraussticht." Nach längerem Tragen verursachten sie außerdem Nackenschmerzen, wie auch der Fast-Company-Journalist feststellen musste.

"Wenn die Brillen erst einmal klein und unauffällig sind, wenn sie sich gut in den Alltag einfügen, werden sie uns einholen", ist Husinsky überzeugt. Wann das sein wird, darauf will er sich nicht festlegen. "Aber in den nächsten zehn bis 15 Jahren wird sich sicher viel tun. Dann werden wir die Brillen den ganzen Tag bei uns haben, wie heute ein Smartphone."

Weglegen, abschalten

Aber auch an der Vorgängerin Google Glass hingen hohe Erwartungen, und dennoch hatte sie keinen Erfolg. Das erklärt Husinsky mit der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz. Die Menschen hatten Angst, von der Kamera der Brille gefilmt zu werden. MR-Brillen gehen insofern noch weiter, als dass sie ihre Umgebung permanent aufnehmen. Wo die Daten landen und wer Nutzen daraus zieht, ist unkontrollierbar. Die entscheidende Frage laut Husinsky: "Werden die Leute das hinnehmen?" Wobei er der Meinung ist, "dass die Bereitschaft, für solche Features seine Intimsphäre aufzugeben, steigen wird". So wie es in der Vergangenheit bei den sozialen Medien der Fall war.

Das erste Smartphone wurde vor etwa zwölf Jahren vorgestellt. Damals dachte sich kaum jemand, dass wir einmal praktisch alles damit abwickeln werden. Ähnlich könnte es auch bei den Datenbrillen ablaufen. "Möglicherweise werden MR-Brillen unser neues multifunktionales Tool", sagt Husinsky. Die Chance, dass wir durch sie wieder mehr von unserer Umwelt wahrnehmen, schätzt der Experte jedoch als gering ein – schließlich kann man sich trotzdem jederzeit ausklinken.

Gegen die digitale Erschöpfung hilft letztendlich wohl doch nur: weglegen oder abschalten. (Lisa Breit, 9.2.2019)