Von wegen "sturmfreie Bude": Wenn Kinder ausziehen, fallen Eltern oft in eine Krise. Sie trauern meist heimlich und sprechen nicht darüber. Die Wissenschaft bezeichnet diese Phase als Empty-Nest-Syndrom. Die Berlinerin Bettina Teubert hat vor sechs Jahren die Selbsthilfegruppe Empty Nest Moms gegründet und stieß damit auf reges Interesse. Wöchentlich melden sich bis zu 40 Mütter bei ihr, die sich austauschen wollen.

Loslassen fällt schwer, auch wenn man sich ein Leben lang darauf vorbereitet.
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STANDARD: Sie haben eine Selbsthilfegruppe für Mütter gegründet, deren Kinder gerade ausgezogen sind. Wie kam es zu den Empty Nest Moms?

Teubert: Als Familientherapeutin hörte ich in meinen Gesprächen mit Frauen oft, wie schön es wäre, wieder so etwas wie eine Krabbelgruppe – also einen Treffpunkt für Eltern –, zu haben, nur ohne Kinder. Auch ich kannte die Situation, wie es sich anfühlt, wenn die erwachsenen Kinder ausziehen. Daraufhin probierte ich es einfach aus. So ist die Selbsthilfegruppe entstanden. Als ich startete, waren die Reaktionen darauf enorm, ich hätte nie mit einem so großen medialen und öffentlichen Interesse gerechnet. Die Frauen waren und sind dankbar dafür, dass sie Raum haben, das Thema anzusprechen.

STANDARD: Warum ist es so schwer, über den Auszug der Kinder zu sprechen? Das passiert doch fast allen Eltern irgendwann einmal.

Teubert: Wir haben keine richtige Trauerkultur in unserer Gesellschaft, es muss immer alles funktionieren, wir sollen gut gelaunt sein. In so einem Moment innezuhalten ist aber in Ordnung, denn der Auszug der Kinder ist auch eine Rückschau. An dem Zeitpunkt ist es aber auch Zeit für Mütter, nach vorne zu schauen und mithilfe all der Schätzen, die sie ein Leben lang angesammelt haben, eine neue Orientierung zu finden. Sie müssen sich aber nicht neu erfinden: Das muss man in diesem Alter auf keinen Fall.

STANDARD: Sie sprechen immer von den Müttern. Was ist mit den Vätern, haben die keine Probleme damit?

Teubert: Männer gehen anders damit um. Sie zeigen das nicht so direkt oder sagen zu ihren Frauen: Was hast du? – Die Kinder sind nicht weg, sie sind nur ausgezogen. Gerade deswegen richtet sich mein Angebot an Mütter, weil sie oft anders trauern. Außerdem sprechen sie offener über die Probleme, wenn sie unter sich sind. Dazu kommt, dass diese Phase bei Frauen oft gemeinsam mit der Menopause auftritt, was die Situation verschärft. Die Mütter, die in meine Gruppe kommen, verzichteten oft auf die Karriere. Sie tun sich besonders schwer damit, wenn ihr Lebensinhalt plötzlich weg ist. Die Kinder sind ihr Lebenswerk.

STANDARD: Trotzdem ist es das Ziel der meisten Eltern, ihre Kinder zu selbstbewussten, selbstständigen Menschen zu erziehen, die das Leben selbst meistern. Ist es nicht auch eine Belohnung, wenn das gelingt?

Teubert: Doch, es ist eine Belohnung und auch die Kinder selbst sind meistens stolz darauf, wenn sie ausziehen. In den wenigsten Fällen bricht der Kontakt dann ab. Dennoch ist das Haus leer, wenn man nach Hause kommt, und so entsteht ein emotionales Spannungsfeld. Wir wissen zwar, dass die Kinder irgendwann gehen, und bereiten uns mit unserem ganzen Tun darauf vor, doch wenn es dann so weit ist, sind wir doch traurig. Entwicklungspsychologen zählen diesen Lebensabschnitt zu den natürlichen Übergangsphasen im Leben. Ein anderer Aspekt ist, dass der Auszug der Kinder oft auch das eigene Älterwerden vor Augen führt.

STANDARD: Was hilft den Müttern in ihrer Selbsthilfegruppe?

Teubert: Sie müssen sich von der aktiven Mutterschaft verabschieden, in der sie ihre Kinder umsorgt, alles geregelt und Entscheidungen für sie getroffen haben. Das gelingt nicht auf Knopfdruck, aber man kann mit den Kindern auf Augenhöhe darüber reden, dass es nicht leicht ist, aber man auch stolz auf sie ist. Auch die Kinder haben ein Interesse, Kontakt zu halten, nur darf man sich nicht erwarten, dass sie jeden Rat befolgen.

STANDARD: Das klingt in der Theorie sinnvoll. Aber wie lernen Mütter loszulassen?

Teubert: Mütter müssen sich wieder darauf besinnen: Wer bin ich? Wie will ich meine neu gewonnene Zeit nutzen? Wo sind meine Interessen? Viele haben verlernt, etwas für sich zu tun, das erlebe ich in der Gruppe sehr oft. Man darf nicht vergessen, dass Frauen heute mit 50 noch sehr fit sind. Aber Ablenkung ist nicht alles: Eine Mutter, die exzessiv Sport machte, nachdem ihre drei Kinder ausgezogen waren, fühlte sich trotzdem schlecht. Erst als sie sich erlaubte, traurig zu sein, aber nicht in der Trauer zu versinken, und sich Zeit ließ, ging es ihr besser. Meist löst sich nach einigen Treffen, in denen sich die Frauen austauschen, ein Knoten.

STANDARD: Was bedeutet es für die Paarbeziehung, wenn die Kinder flügge werden?

Teubert: Es ändert sich viel. Wenn ein Paar plötzlich wieder alleine am Tisch sitzt, ist das am Anfang komisch. Mann und Frau müssen sich wieder neu zusammenfinden, oft auch sexuell. Wir sehen plötzlich wieder den Menschen an unserer Seite, mit dem wir die ganze Zeit über zusammen waren, der sich aber womöglich komplett verändert hat. Viele nehmen das erst wahr, wenn die Kinder ausziehen. Nicht umsonst sind die Scheidungsraten in dieser Lebensphase hoch.

STANDARD: Was machen die Eltern mit den Zimmern der Kinder?

Teubert: Das ist auch abhängig von der ökonomischen Situation. Berlin ist eine Stadt der Mieter, dort ziehen viele in kleinere Wohnungen, wenn die Kinder ausgezogen sind. Manche machen ein Modelleisenbahn-, Yoga- oder Nähzimmer daraus und füllen den Raum mit neuem Leben. Doch von den meisten Müttern weiß ich, dass sie in diesen Zimmern immer noch eine Schlafmöglichkeit für ihre Kinder lassen. Bedenklich wird es, wenn die ehemaligen Kinderzimmer als eine Art Schrein konserviert werden und sich Mütter regelmäßig darin zurückziehen und weinen. Das Empty-Nest-Syndrom ist zwar keine Krankheit, kann aber in Ausnahmefällen auch Auslöser für eine echte Depression sein. Dann sollte man sich an einen Psychologen oder Psychiater wenden. (Marietta Adenberger, 10.2.2018)