Gertrude Bell war eine selbstbewusste Pionierin mit Stil.
Foto: Gertrude Bell Archive, Newcastle University

Im Frühjahr 1919 verhandeln die mächtigsten Staatsmänner bei der Versailler Friedenskonferenz über die Aufteilung der vom Krieg zersplitterten Welt. Unter all den Männern sticht eine Frau hervor: die Arabistin und Archäologin Gertrude Bell, die mit dem 20 Jahre jüngeren Thomas Edward Lawrence angereist ist. Die Orient-Expertin tritt für das Selbstbestimmungsrecht Mesopotamiens ein – allerdings vergeblich. Während ihr Begleiter als heldenhafter "Lawrence von Arabien" in das kollektive Gedächtnis einging, geriet sie selbst in Vergessenheit.

Dabei war die vornehme Britin eine der einflussreichsten Frauen ihrer Zeit. Sie unternahm abenteuerliche Expeditionen durch die Wüste und setzte archäologische Standards. Sie war vertraut mit den Stammesführern im Nahen Osten genauso wie mit dem Führungsstab der britischen Kolonialmacht. Ihre Expertise machte sie schließlich zur Schlüsselfigur bei der Gründung des Vielvölkerstaats Irak. Einer Nation, die sich kaum auf einen Nenner bringen ließ und von Anfang an unter und den konträren Vorstellungen von Schiiten und Sunniten litt.

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Sie pflegte enge Verbindungen zur lokalen Bevölkerung ...
Foto: Mary Evans / picturedesk.com

"Bis heute wird Bell nicht die Würdigung zugestanden, die sie verdient hätte", sagt die Berner Archäologin und Historikerin Charlotte Trümpler. "Erst mit dem letzten Irakkrieg ist sie wieder ins Bewusstsein getreten." Wenn heute von ihr die Rede ist, wird an hochtrabenden Attributen nicht gespart: Spionin, Mutter des Irak, weiblicher Lawrence von Arabien, Königin der Wüste – "zu Recht", meint Trümpler, die vergangene Woche bei der Tagung "Archäologie und Republik" am Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag zum Leben Bells gehalten.

Orient-Flash

Gertrude Bell hatte die besten Voraussetzungen für ein geruhsames Leben in Luxus, als sie am 14. Juli 1868 als Tochter eines Stahlmagnaten in eine der reichsten Familien Großbritanniens geboren wurde. Ihre Ambitionen, sich nicht damit zufriedenzugeben, zeigten sich früh: 1886 studierte sie als eine der ersten Frauen Geschichte an der Universität Oxford und schloss als allererste Frau mit Auszeichnung ab – allerdings ohne einen Titel zu erhalten, der blieb Frauen noch verwehrt.

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... führte Ausgrabungen durch, dokumentierte ihre Expeditionen penibel und hinterließ zahllose Fotografien.
Foto: Mary Evans / picturedesk.com

In England wurde es ihr schnell zu eng: "Als Frau durfte sie nicht einmal ohne Begleitung ins Museum gehen", sagt Trümpler. "Es wurde erwartet, dass sie heiratet, aber sie war furchtbar gelangweilt von den Männern. Sie hatte einen scharfen Verstand und eine scharfe Zunge. Nach drei Ballsaisonen gab sie die Suche auf."

Das weitverzweigte Netzwerk der Familie verhalf ihr zu ersten Auslandsreisen, sie fing an, Persisch zu lernen. "Als sie 1892 nach Teheran kam, war das wie ein Flash", schildert Trümpler. Bell hatte am Orient Feuer gefangen, sog alles in sich auf. Es folgen Reisen durch Europa, Alpenbesteigungen vom Montblanc bis zum Matterhorn, bevor es sie wieder in den Nahen Osten zog. Sie unternahm Reisen in die syrische Wüste, perfektionierte ihr Arabisch und entwickelte eine Leidenschaft für Archäologie. Zurück in Europa vertiefte sie sich in die Grabungswissenschaften.

Hochangesehene Wüstentochter

Bei den folgenden Expeditionen durch Mesopotamien und die Arabische Halbinsel, die sie bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs durchführte, durchwanderte die stilbewusste Lady mit den grünen Augen und den roten Haaren mit ihrer Karawane Gebiete, in die noch kaum jemand aus dem Westen vorgedrungen war. Sie lernte die lokalen Gepflogenheiten kennen, war bei den Beduinenführern zu Gast und wurde bald zu einer hochangesehenen Frau, die "Wüstentochter" oder "Kathun" (Königin) genannt wurde. "Sie war natürlich ein Exotikum. Aber sie war auch extrem diplomatisch, verlor nie die Geduld und auch nicht das Gesicht", schildert Trümpler. "Dabei entwickelte sie ein unglaubliches Gespür für die Machtverhältnisse in der Region."

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Als mutige Frau, die deren Sprache beherrschte, erarbeitete sich Gertrude Bell großen Respekt bei den Wüstenvölkern.
Foto: Mary Evans / picturedesk.com

Während ihrer Reisen dokumentierte sie alles, führte Buch über archäologische Funde, beschrieb, vermaß und fotografierte antike Stätten, berichtete in Tagebüchern und Briefen ausführlich über ihre Begegnungen. Bei der Royal Geographical Society, deren Mitglied sie wurde, hatte sie Kurse in Kartografie und Vermessungstechnik belegt und konnte somit genaue Pläne der Nomadengebiete erstellen.

Agentin und Politikerin

Bells Wissen war im Wüstenkrieg, den die Briten gegen das mit den Deutschen verbündete Osmanische Reich führte, unbezahlbar. Das mussten sich auch die Generäle eingestehen, die sie 1915 als Geheimdienstmitarbeiterin ins Arab Bureau in Kairo holten, um Verbindungen zu den arabischen Stammesfürsten zu knüpfen. Wenig später wird sie als "Orientsekretärin" nach Bagdad berufen.

Bei der Konferenz von Kairo 1921 – es ist bereits zu antibritischen Revolten gekommen, die mit Bomben beantwortet wurden – setzte sie sich bei Kolonialminister Winston Churchill dafür ein, dem Irak weitestgehende Autonomie zuzugestehen. Sie war es, die höchstpersönlich die Grenzen des neuen Staates festlegte. Dank ihrer Empfehlung wurde ihr enger Vertrauter Emir Faisal I. als erster irakischer König eingesetzt.

Am Höhepunkt ihrer politischen Karriere widmete sich Gertrude Bell nun wieder der Archäologie. Sie wurde Ministerin für Altertümer, gründete in Bagdad das irakische Nationalmuseum und brachte das erste Antikengesetz durch, das die Aufteilung der Funde zwischen Entdeckern und Herkunftsland regelte.

Bis zu ihrem Tod im Jahr 1926 lebten "zwei Seelen in ihrer Brust, eine orientalische und eine britische."
Foto: wikipedia/Gertrude Bell Archive

Sinneswandel bei den Frauenrechten

Ihre Vision eines irakischen Staates, der – autonom, aber unter britischer Anleitung – die bis aufs Blut verfeindete Völker einigte, erwies sich als Trugbild. Auch sie fand keinen Zugang zu den schiitischen Anführern. Immerhin hatte sie ihre Haltung Frauen gegenüber geändert. "Als Mitglied einer adeligen Familie war sie prinzipiell gegen das Frauenwahlrecht", sagt Charlotte Trümpler. "Während der Arbeit am Aufbau des Irak erkannte sie aber das Potenzial der Frauen und regte ein Schulsystem für die Bildung von Mädchen an."

Am 12. Juli 1926 starb Gertrude Bell an einer Überdosis Schlaftabletten. Für Trümpler besteht kein Zweifel, dass es Selbstmord war: "Sie hatte schwere Depressionen, litt unter den klimatischen Bedingungen." Bis zuletzt lebten "zwei Seelen in ihrer Brust, eine orientalische und eine britische" – zerrissen wie das Zweistromland. (Karin Kriechmayr, 10.2.2019)