Sopran Olga Peretyatko vermittelt die Tragik von Lucia in jedem Ton.

Pöhn

Der qualvoll fantasievolle Wahn ist womöglich nur eine plausible Reaktion auf unerträgliche Gegebenheiten. Bisweilen bricht er nicht vulkanartig aus, auch nicht in dieser Lucia di Lammermoor. Das holde Mädchen ist schon lange vor ihrer Bluttat eine Seltsame. In Weltabgeschiedenheit wird sie verwahrt, um für eine inszenierte Vernunftehe rein zu bleiben. Doch längst plagen Lucia grelle Angstvisionen; nur der Gedanke an Edgardo hellt das fragile Gemüt auf. Mit zur Seite gebeugtem Köpfchen träumt Lucia vor sich hin, um Sekunden später in sich zusammenzusacken. Sie ist das verletzte Wesen, in dessen Kopf sich Horror und Romantik ein Dauerduell liefern.

Wie ein Stummfilm

Als psychisch Wankende steht Lucia in einer verschneiten Hügellandschaft neben einem riesigen Quader. Dahinter schimmert ein nebelumhülltes Anwesen des 19. Jahrhunderts (Bühne: Chantal Thomas). Nicht grundlos: Die Regie hat sich von Jean Epsteins Verfilmung von Edgar Allen Poes The Fall of the House of Usher inspirieren lassen. Dem Stummfilm wird offenbar eine surreale Atmosphäre entlehnt, in der sich Traum und Albtraum optisch mischen. Passt an sich ganz gut zu Donizettis Belcantoklassiker und ermöglicht Abstraktion.

Regisseur Laurent Pelly (auch Kostüme) scheint jedoch besonders an Stummfilmgestik Gefallen gefunden zu haben. Nur Lucia erspart er eine solche: Während um sie herum "Angewurzelte" davon fantasieren, das Feuer der Rache mit Blut löschen zu wollen, ist Lucias fragiles Seelchen differenziert ausgestaltet.

Keine große Stimme

Olga Peretyatko vermittelt die Tragik dieses Mädchens in jeder Geste. Sie verfügt zwar über keine durchdringende Stimme, Geläufigkeit aber ist vorhanden, um Koloraturen locker fließen zu lassen. Die meisten Spitzentöne kommen klar und eindringlich. Sie singt zwar manchen Ton eher vorsichtig an und erspart sich schließlich das sehr hohe Es in der Wahnsinnsarie. Mit Glasharmonika-Begleitung (statt Flöte) jedoch schafft sie das packende Porträt einer Umnachteten, die Arturo (angenehme Stimme, szenisch jedoch karikaturhaft: Lukhanyo Moyake) ermordet hat. Sehr respektabel.

Lucia ist quasi das humane Element in einer Art opernhaftem Wachsfigurenkabinett: Womöglich wäre der Inszenierung eher gedient gewesen, hätte sich die Regie vom Fünften Element inspirieren lassen. In Luc Bessons Science-Fiction-Klassiker singt ja sogar die große Diva Plavalaguna in ihrem Diva Dance Teile aus Lucias Wahnsinnsarie, bevor es groovig und virtuos mit Koloraturartistik weitergeht.

Frühromantischer Hass

Nicht, das die frühromantische Hassstory zwischen den Familien Ashoton und Ravenswood in eine futuristische Sphäre hätte rübergebeamt werden müssen. Abseits von Lucia herrscht jedoch eine szenische Belanglosigkeit, die nur punktuell mit der Schwere der Partien zu rechtfertigen ist und bereits in ihrer Premierengeburtsstunde reparaturbedürftig wirkt.

Den Hut wegwerfen oder knien ist zumeist das höchste der Schauspielgefühle. Enrico, den George Petean robust singt, wirkt selbst in jenem ehrlichen Moment nicht glaubwürdig, da er Schwester Lucia flehend seine politische Notlage offenbart.

Kraft der Töne

Auch im angeblich hasserfüllten Zwiegespräch mit Edgardo bleibt es eher bleiern: Zwei, die, so man dem Libretto Glauben schenkt, einander die Herzen rauszureißen gedenken, wirken wie liebe Zinnsoldaten. Allerdings ist Juan Diego Flórez als Edgardo vokal von einer Intensität, die Tönen szenische Kraft verleiht. Ausdauer, Vitalität und Klarheit sind frappant. Und: Flórez bindet vokale Könnerschaft auch an emotionalen Ausdruck.

Dass er gestisch nicht über den Griff auf Herz und Brust hinauskommt, ist zwar bedauerlich. Es lohnt sich jedoch bei ihm, die Augen zu schließen – wie auch beim profunden Jongmin Park (als Raimondo) und dem Rest des wackeren Ensembles. Seltsame Bewegung übrigens beim guten Staatsopernchor: Er wird zum Hochzeitsgrüppchen, welches das Flair einer Totenfeier versprüht. Er wird umgruppiert, er muss tanzen oder schwanken. Es ist sinnbefreite szenische Gymnastik.

Der grobe Klang

Das Orchester unter Dirigent Evelino Pidò liefert dem Ganzen nach anfänglichem Grobklang solide orchestrale Assistenz, ohne große Akzente zu setzen. Keine besonderen Vorkommnisse also, bis sich der Naturkreis schließt. Wie zu Beginn fällt Schnee auf die nun blutigen Hügel. Ein paar Flocken können sanft auch auf den Skulpturen dieser Inszenierung aus Philadelphia landen, mit der es nun in Wien zu leben gilt. Gähn. (Ljubisa Tosic, 10.2.2019)