Selbst der scharfzüngige Aufklärer und ewige Kirchenkritiker Voltaire legte zwei Monate vor seinem Tod die Beichte ab und ließ einen Priester an sein Totenbett holen. Offen bleibt, ob der Philosoph in den letzten Atemzügen nur vor der Kirche buckelte, um ein ordentliches Begräbnis zu bekommen – oder ob er tatsächlich quasi auf den letzten Drücker noch versuchte, einen Draht nach oben zu bekommen.

Zumindest eint Gläubige und Ungläubige eines: Es gibt Momente des kritischen Innehaltens. Selbst wenn Religionen ihren Anhängern klare Richtlinien vorgeben, gehört ein Hadern und Zaudern dazu. Und der Ungläubige steht vor der nicht minder schwierigen Aufgabe, ohne religiösen Wegweiser eine moralisch vertretbare Lebensrichtung finden zu müssen.

Weltanschauliche Neutralität

Auch wenn das Selbstverständnis, religiös zu sein, in Österreich unverändert hoch und stabil ist, scheint doch für immer mehr Menschen ein Leben ohne Gott eine attraktivere Variante zu sein. Die Zahl der Atheisten steigt kontinuierlich (siehe Grafik). Das wird sich fortsetzen, sagt Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Universität Münster.

STANDARD: Die Zahl der Konfessionslosen steigt. Bleibt das so?

Religionssoziologe Detlef Pollack: Dieser Trend ist seit Jahrzehnten zu beobachten, und er wird anhalten. Es ist unwahrscheinlich, dass sich daran etwas ändert. In Deutschland denken höchstens ein bis zwei Prozent der Ausgetretenen darüber nach wiedereinzutreten. Der große Rest will das nicht.

STANDARD: Können die Kirchen etwas dagegen tun?

Pollack: Sie tun seit Jahrzehnten viel gegen den Abwärtstrend, aber es gelingt nicht, ihn umzukehren. Seit 40 Jahren bleibt der Anteil der Kirchenmitglieder, die über einen Kirchenaustritt nachdenken, konstant bei etwa 15 Prozent. Trotz der Austritte kommt es nicht zu einer Verkleinerung dieser Gruppe.

Früher waren es vor allem höher Gebildete aus urbanen Schichten, die der katholischen oder der evangelischen Kirche adieu gesagt haben. Das, sagt Pollack, sei mittlerweile anders. Der Austritt sei längst enttabuisiert, daher treten auch immer mehr Menschen vom Land wie auch weniger hoch Gebildete aus. Auch in der Geschlechterfrage gebe es eine Anpassung: "Es sind zwar noch immer mehr Männer konfessionslos, aber das gleicht sich immer mehr an", sagt dazu Pollack.

Niko Alm kämpft seit Jahren gegen Konkordat und Sonderstellungen der Kirchen. Gerade hat er ein Buch darüber veröffentlicht ("Ohne Bekenntnis. Wie mit Religion Politik gemacht wird" im Residenz-Verlag). Alm wünscht sich "einen Staat, der weltanschaulich neutral ist". Das bedeute nicht, dass Religion völlig ausgeblendet werden soll. Sie solle aber Privatsache sein. Was das bedeutet? Der Atheist listet auf: Steuerprivilegien gehörten beendet. Es dürfe keinen Religionsunterricht in den Schulen mehr geben. Der verpflichtende Ethikunterricht sei "längst überfällig". Und weiter: "Die Kirche sollte auch raus aus dem Bundesheer – Stichwort Militärseelsorger – und raus aus den Universitäten." Theologie ist für Alm nämlich keine Wissenschaft: "Religionswissenschaften hingegen schon." Dass etwa der ORF-Stiftungsrat mit religiösen Repräsentanten besetzt wird oder die Religionen in Ethikkommissionen abgebildet werden, hält er "ebenso für problematisch".

Auch als Konstrukteure von Wertvorstellungen taugen Religionen nicht, findet Alm: "Gläubige müssen sich das offenbar vorsagen lassen. Aber die kirchlichen Werte wurden auch nur von Menschen erfunden." Ein solches Regelwerk finde sich auch außerhalb von Konfessionen: "Das nennt sich Ethik. Der Staat und die Gesellschaft haben sich selbst Werte gegeben, dazu zählen die Grundgesetze wie auch die Europäische Menschenrechtskonvention."

"Produktive Irritation"

Bei Gregor Maria Hoff, Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Universität Salzburg, löst die weltweit steigende Zahl an Atheisten durchaus eine "produktive Irritation" aus. Vor allem bewirke die Bestreitung der Existenz Gottes, dass sich auch religiöse Menschen intensiver mit dem eigenen Glauben auseinandersetzen. Hoff: "Man stellt sich unweigerlich die Frage, wo denn der Unglaube im eigenen Glauben ist." Generell gebe es aber sicher nicht den einen Grund, warum die Zahl an Atheisten so rasant steige: "Da spielen viele, oft sehr persönliche Faktoren eine Rolle. Gelebte Weltbilder und ihr Rahmen verändern sich. Aber eines ist klar: Das Gottesbild hat in westlichen Gesellschaften sicher an Plausibilität verloren." Hinzu kämen so prägende Ereignisse wie der Missbrauchsskandal – "so etwas lässt viele Menschen natürlich jeglichen Glauben verlieren".

Irrelevante Kinderstube

Bei der Frage, ob jemand, der in einem religiös geprägten Umfeld aufwächst, auch lebenslang tiefer im Glauben verankert ist, kann der Theologe auf Erfahrungen in der eignen Familie zurückgreifen: "Ich habe zwei Söhne – einer ist entspannter Agnostiker, der andere studiert Theologie. Man kann also nicht sagen, dass eine religiöse Kinderstube prägend für das weitere Leben ist. Für den einen sind Glaubensfragen relevant, der andere enthält sich dezent."

Dennoch drängt sich eine Frage auf: Woran glauben Ungläubige eigentlich? Fundamentaltheologe Hoff sagt dazu: "Mit Sicherheit an bestimmte Werte. Und an ein naturalistisches Weltbild."

Religionssoziologe Pollack zweifelt hingegen schon, ob die Fragestellung zulässig ist. "Sie unterstellt, dass jeder Mensch eine Art Höchstwert braucht, an den er sich halten kann. Es gibt aber viele, die sagen: Es geht auch ohne", sagt er. Interessant sei, dass die Unterschiede zwischen Konfessionslosen und konfessionell Gebundenen hinsichtlich ihrer Wertorientierungen "gar nicht so groß sind". Tendenziell seien konfessionelle Menschen etwas konservativer eingestellt, so seien ihnen Gesetz und Ordnung etwas wichtiger als der anderen Gruppe. Diese wiederum setze mehr auf Selbstverwirklichung. Pollack schließt aus den doch ähnlichen Einstellungen, dass "die Religion längst nicht mehr der wichtigste Bereich ist, an dem sich die Menschen in ihrem Leben orientieren". Wichtiger seien ihnen die Familie, die Freunde, Nachbarn oder der Beruf.

Spirituelle Angebote

Dass viele Menschen einen Wunsch nach Spiritualität verspüren, versteht Atheist Alm, auch wenn er "mit diesen Angeboten nichts anfangen kann. Ich bin völlig unspirituell." Esoterik oder fernöstliche spirituelle Praktiken seien "nicht unbedingt besser". Aber, sagt Alm: "Spannender finde ich, wenn jemand sich selbstbestimmt überlegt, welchen Weg er gehen will, und die spirituellen Angebote selbst prüft." Letztlich blieben für jeden Menschen Fragen, die nicht beantwortet werden können.

Der Atheismus an sich habe sich, sagt Fundamentaltheologe Hoff, in den letzten Jahren stark gewandelt: "Nach dem lauten, aggressiven Atheismus, der vor allem auch als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 aufkam, ist jetzt die Zeit eines leisen, nachdenklichen Atheismus angebrochen. Weg von seiner rabiaten, rein naturalistischen Ausrichtung hin zu einem nuancierteren Verhältnis zu religiösen Traditionen. Zu einer 'Religion ohne Gott'." Der Experte sieht im STANDARD-Gespräch in der Entwicklung hin zu einer "Spiritualität ohne Gott" aber durchaus positive Aspekte. Sowohl Atheisten als auch Gläubige könnten voneinander lernen. "Atheisten könnten von religiösen Traditionen zum Beispiel lernen, wie Versöhnungsrituale funktionieren. So etwas brauchen Menschen. Gläubige wiederum könnten sehen, wie ernst man religiöse Traditionen nehmen kann, auch wenn man sie ausschließlich unter einem kulturellen Blickwinkel betrachtet."

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Mit der Frage, woran Ungläubige nun eigentlich glauben, hat Wilfried Apfalter, Präsidiumsmitglied der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich (ARG), grundsätzlich kein Problem – und eine Antwort parat. Er ist, "ohne irgendjemanden vereinnahmen zu wollen", überzeugt, dass Atheisten "sicherlich kein monolithischer Block" seien. Atheisten glaubten, dass "Göttinnen und Götter in der wirklichen Wirklichkeit keine von Menschen unabhängigen, eigenständigen Akteure sind". Woran Atheisten vor diesem Hintergrund sonst noch glauben, könne durchaus unterschiedlich sein. Punkto Religionsfreiheit bezieht er eine liberale Position: "Das Grund- und Menschenrecht der Religionsfreiheit ist natürlich kein Problem für mich, ganz im Gegenteil – ich nehme – und wir nehmen es als ARG – ja auch für uns selbst in Anspruch."

Eine Frage des Rechts

Religion im öffentlichen Raum sei für ihn in Ordnung, solange sie sich innerhalb der rechtlich jeweils gestaltbaren Grenzen der Religionsfreiheit bewege, stellt Apfalter klar. Diesbezüglich plädiere er für "gut überlegte, einheitliche Kriterien, die dann auch wirklich für alle gleichermaßen gelten". Apfalter: "Und überhaupt für eine vereinheitlichende und den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz genau beachtende Zusammenführung des derzeit sehr heterogenen Rechts, das mir aktuell leider deutlich diskriminierend vorkommt – konkret etwa beim Schulkreuz oder dem Kopftuchverbot."

STANDARD: Seit wann bezeichnen Sie sich als Atheisten?

Wilfried Apfalter, Atheisten-Gesellschaft: Als Atheisten habe ich mich informell schon bezeichnet, als ich noch Mitglied der katholischen Kirche war. Ich bin 1995 aus ihr ausgetreten.

STANDARD: Es war also ein schleichender Prozess?

Apfalter: Ich kann mich eigentlich gar nicht daran erinnern, dass ich jemals wirklich an Gott geglaubt hätte. In meiner Familie wird erzählt, dass ich schon in meiner Kindergartenzeit einmal zu Hause gemeint habe: "Was die Tante heute über Jesus erzählt hat, kann ich nicht glauben."

STANDARD: Gibt es Aspekte, um die Sie gläubige Menschen beneiden?

Apfalter: Irgendwie nein. Und ich beteilige und engagiere mich ja genau genommen auch beim Entwickeln eines – alternativen – Glaubens.

Ein Problem, gegen das Niko Alm ankämpft, ist, dass Religionsgegner zu wenig Gehör finden. Stimmt, sagt auch Soziologe Pollack: "Es ist sicher so, dass die Atheisten, Freidenker, Humanisten oder wie sie sich auch nennen keine starke Stimme haben." Seine Erklärung: "Der Zusammenhalt funktioniere nur auf einer negativen Basis, nämlich dass sie keine Kirchenmitglieder sind. Fragt man nach ihrer Haltung, etwa zum Kreuz in den Schulen, zur Rolle der Kirchen in der Öffentlichkeit, etwaigen Privilegien, dann sind sie schnell uneins." Außerdem kann ein Gutteil von ihnen mit Religion schlichtweg nichts anfangen. Pollack: "Kirche bedeutet ihnen nichts. Und weil das so ist, haben sie auch kein Interesse daran, sich in Abgrenzung zu ihr zu organisieren." (Peter Mayr, Markus Rohrhofer, 19.2.2019)