Maljartschuk: Suche nach Identität in der traumatischen Geschichte der Ukraine.

Foto: Michael Schwarz

Wenn man das Fortschreiten der Zeit in ein Bild fassen will, sagt man gerne: Die Zeit fliegt. Bei Tanja Maljartschuk schwimmt die Zeit, denn sie ist ein riesiger Wal, der sich vom menschlichen Leben ernährt.

"Die Zeit verschlingt Millionen Tonnen davon, zerkaut und zermalmt sie zu einer gleichmäßigen Masse wie ein gigantischer Blauwal das mikroskopisch kleine Plankton – ein Leben verschwindet spurlos, um einem anderen, dem nächsten in der Kette, eine Chance zu geben."

Zwei Erzählstränge

Blauwal der Erinnerung heißt der neue Roman der 1983 in der Ukraine geborenen, seit 2011 in Wien lebenden Autorin, die vergangenes Jahr in Klagenfurt für den Text Frösche im Meer den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

Sie verknüpft darin zwei Leben, die eigentlich wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben: das einer jungen ukrainischen Schriftstellerin mit dem eines aus einer polnischen Adelsfamilie stammenden Historikers, Publizisten und Politikers, der sich für die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine einsetzte und am Scheitern seiner Pläne schließlich zerbrach.

Dieser Idealist, der bis zur Selbstaufgabe für eine Nation kämpfte, die eigentlich gar nicht die seine war, ist eine historische Figur: Wjatscheslaw Kasymyrowytsch Lypynskyj, 1882 im russischen Kaiserreich geboren, 1931 nach nahezu lebenslanger Tuberkulose-Erkrankung im österreichischen Pernitz verstorben.

Er erlebte den Ersten Weltkrieg und die Februarrevolution, setzte sich für das sogenannte Hetmanat, einen 1918 bis 1919 kurzzeitig existierenden ukrainischen Staat, ein und war dessen Botschafter in Wien. Sein Privatleben war unglücklich, in Mitleidenschaft gezogen von der Krankheit und seiner nahezu wahnhaften politischen und publizistischen Betätigung.

Suche nach Identität

Warum nun interessiert sich eine junge Frau gut hundert Jahre später für diese sperrige Figur? Was verbindet sie? Nichts, heißt es gleich auf der ersten Seite des Romans. "Wir sind so verschieden, sind einander so fremd, dass keine Erzählung uns verbinden könnte, wäre da nicht meine irrationale Sturheit."

Die Erzählstränge wechseln sich ab, Kapitel, die Lypynskyjs Leben nacherzählen, mit von solchen, in denen die Frau berichtet: von ihren gescheiterten Beziehungen, dem Schreiben, ihren psychischen Problemen, aber auch von Erinnerungen an Kindheit und Familie. Panikattacken quälen sie, irgendwann kann sie das Haus nicht mehr verlassen, verbarrikadiert sich monatelang in ihrer Wohnung.

In der Beschäftigung mit dem ihr zuvor unbekannten Mann, auf dessen Namen sie eher zufällig in einer alten Zeitung stößt, scheint sie Halt zu finden in einer haltlosen Welt. Ein Bollwerk gegen die Gefräßigkeit des Blauwals. Es ist dieses Vergessenwerden, das sie in Schrecken versetzt, "die Spurlosigkeit des Verschwindens", der sie etwas entgegensetzen möchte.

Die Suche nach Identität scheint die beiden Figuren zu verbinden, nach Sicherheit und Verwurzelung inmitten der wechselhaften, bis heute traumatischen Geschichte der Ukraine. Hier erhält die Auseinandersetzung mit Lypynskyj Brisanz, etwa wenn Maljartschuk ihn mit Zeilen wie diesen zitiert: "Ohne Hetmanat bleibt das Ukrainertum ein dicker Nebel.

Kraftlos wird der Nebel mal gen Osten, mal gen Westen driften, je nachdem, wer ihn antreibt (...)." Sie hat sich offenbar gut in die historischen Quellen eingelesen, zeichnet detailreich den Weg Lypynskyjs nach und gibt teils anekdotische, überraschende Einblicke in die jüngere ukrainische Geschichte – etwa dass ein großer Teil der ukrainischen Staatsregierung letztlich im Wiener Exil lebte und die hiesigen Kaffeehäuser bevölkerte.

Die Geschichte der Frau

Doch über die Länge des Romans wird die Erzählung zunehmend trocken, die Begeisterung für diese historische Figur überträgt sich nicht. Man verliert das Interesse an ihr. Die Geschichte der Frau bleibt daneben in vielem zu vage. Gleich zu Beginn heißt es, das, was sie während ihrer Panikattacken erlebe, könne "nicht auf die gewohnte Art und Weise beschrieben werden" und brauche "neue Worte, eine neue Wahrheit".

Doch von diesem Neuen ist wenig zu finden. Vielmehr verweist das ambitionierte Vorhaben in seiner mangelnden Einlösung erst recht darauf, wie konventionell der Roman eigentlich erzählt ist. Nichts gegen ein Herz, das während einer Panikattacke dröhnt und in die "Kehle drängt" – aber neue Worte sind das dann doch eher nicht.

Letztlich scheitert der Roman vor allem an seinen eigenen Ansprüchen: Die einzelnen Episoden und Erinnerungen sind mit großer sprachlicher Sicherheit, poetisch und atmosphärisch dicht erzählt, man liest das gerne.

Was nun aber diese "neue Wahrheit" sein soll, das lässt sich ebenso wenig erkennen wie ein zwingender Grund dafür, diese beiden Lebensgeschichten, die fiktive und die reale, miteinander zu verknüpfen. Es ist, als hingen ein paar kleine, aber entscheidende Fäden lose zu Boden. Man kann zwar erahnen, wie sie zusammengehören. Aber es bleibt das unbefriedigende Gefühl, dass hier etwas fehlt.(Andrea Heinz, 16.2.2019)