Erzählt über das Wahre und Falsche der Liebe: Julian Barnes.

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Ist die Erinnerung, wie Jean Paul einst meinte, wirklich das einzige Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann? Oder ist sie, ganz im Gegenteil, eine Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt? Beantworten will Julian Barnes diese Frage in seinem neuen Roman Die einzige Geschichte nicht, er möchte sie aber mindestens von seinem Erzähler Paul, einem siebzigjährigen Mann, gestellt wissen, der auf dreihundert Seiten eine Vergangenheit rekapituliert, die er nicht vergessen kann. Konkret geht es um seine erste, wohl einzige große Liebe.

Diese Liebe sei für ihn, wie die betroffene Frau, "eine totale Katastrophe gewesen", konstatiert Paul mit Blick auf die "Geschichte", deren Ausgangssituation er als Erzähler so umreißt: "Die Zeit: vor über fünfzig Jahren. Der Ort: etwa fünfzehn Meilen südlich von London. Das soziale Milieu: der sogenannte Börsenmaklergürtel."

Dergleichen hat man bei Barnes schon gelesen, etwa in seinem Buch Vom Ende einer Geschichte (2011), auf das der britische Erfolgsautor im Titel seines neuen Romans anspielt. Wieder geht es um den Unterschied von Gedächtnis und Erinnerung, wieder handelt der Roman vom "groß geschriebenen LEBEN" sowie von einer Spurensuche und einer Ermittlung in eigener Sache.

Lieben oder leiden

An sich ist der Plot von Die einzige Geschichte unspektakulär, und doch hält das Buch den Lesenden vom ersten, direkt an ihn gerichteten Satz, bei der Stange. Er lautet: "Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden? Das ist, glaube ich, am Ende die einzige wahre Frage."

Das Leiden nimmt seinen Ausgang in jener Geschichte Anfang der 1960er-Jahre, in der Paul, damals 19-jährig und entsprechend lebenshungrig, im Tennisklub eine Mitspielerin für das gemischte Doppel zugelost bekommt. Sie heißt Susan, ist 48, hat zwei Töchter (beide älter als Paul) – und einen Ehemann.

Paul und Susan erweisen sich nicht nur auf dem Platz als gutes Team, sie werden schnell auch ein Paar. Was für einige Komplikationen sorgt und im gutbürgerlichen Quartier zu einem Skandal größeren Ausmaßes führt. Susan verlässt Mann, Haus und Kinder und zieht mit Paul, der ein Rechtsstudium aufnimmt, in eine kleine Wohnung nach London.

Dort gerät die Beziehung, der viele ein ungutes Ende prophezeit haben, aus den Fugen, sie endet in Angst, Misstrauen, Wut, Lüge, Alkoholismus, Depression und Wahnsinn. Allerdings erst nach elf Jahren.

Barnes legt es nicht darauf an, eine skandalöse "éducation sentimentale" in grellen Farben auszumalen oder gar einen Entwicklungsroman zu schreiben. Vielmehr erzählt er gewohnt nüchtern von Bildern, die man sich vom anderen macht. Er erzählt von der Leichtigkeit des Jungseins, den Bürden des Alters – und, vor allem, vom Zauber des Anfangs.

Paul, der Erzähler

Kunstvoll variiert er dabei die Erzählhaltung, zuweilen wendet sich Paul als Erzähler direkt an den Leser, dann schildert er die Ereignisse aus der distanzierenden Er-Form, um zuweilen in das Du des Selbstgesprächs oder direkt in die Ich-Form zu kippen.

Zwei der drei Romankapitel befassen sich mit dem Verlauf der epischen Liebe dieses ungleichen Paares. Im letzten Teil des Buches schildert Paul, den es im wahrsten Sinn später in der Welt herumgetrieben hat, welche emotionalen Schutzstrategien er entwickelte und wie er in einem Büchlein Sätze über die Liebe notiert, die er durchstreicht, wenn sie ihm nicht mehr wahr erscheinen.

Einer ist in Pauls Sammlung zentral, er stammt vom Maximenschmied Nicolas Chamfort (1741-1794), den Julian Barnes schon in seiner Essaysammlung Am Fenster (2012) zitierte: "In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich." Paul wird auch diesen Satz streichen. Was also bleibt?

Geschmeidiger Stil

Es bleibt die Erinnerung und ein Liebesroman, geschrieben im geschmeidig-ruhigen Barnes-Sound, in dem stets weit mehr mitschwingt als das Gesagte. Die einzige Geschichte ist ein trauriges Buch über Vergänglichkeit, die Zerbrechlichkeit der Liebe und die Kipp-Punkte des Lebens, in dem – und das macht die große Kunst von Julian Barnes aus – in dem das Glück immer wieder aufflackert. Kurz nur, aber lange genug, um dem Erzähler und mit ihm dem Leser den Kopf zu verdrehen. (Stefan Gmünder, 18. 2. 2019)