Gebannt beobachtet die politisch interessierte europäische Öffentlichkeit, wie eine Großmacht chaotisch und unaufhaltsam einem nationalen Selbstmord auf Raten entgegengeht. Mir fällt dabei einer der "unfrisierten Gedanken" des großen polnischen Satirikers Stanislaw Jerzy Lec ein: "Die Wirklichkeit kann man ändern, eine Fiktion muss man aufs Neue ersinnen." 70 bis 80 chauvinistische Sektierer und von der imperialen Nostalgie verblendete rechte Träumer in der noch regierenden konservativen Partei, unterstützt von Boulevardblättern und manchen früheren "Qualitätszeitungen", glauben, entgegen jeder historischen Erfahrung, dass Großbritannien einen harten, vertragslosen Brexit ohne größere Probleme bewältigen könne.

Worum geht es? Nach einem ungeregelten britischen Austritt wird die 500 Kilometer lange Grenze zwischen der Republik Irland, dem EU-Mitglied, und Nordirland (Vereinigtes Königreich) zu einer Außengrenze der EU, mit Kontrolle des Personen- und Warenverkehrs, möglicherweise mit Schlagbäumen und Grenzzäunen. Die Teilung der irischen Insel durch eine harte Grenze könnte die Friedenserfolge seit dem Abkommen von 1998 gefährden. Es handelt sich bei der irischen Frage nicht um eine theoretische Spiegelfechterei, sondern um die Erinnerung an den mörderischen Konflikt zwischen katholischen und protestantischen Milizen, der zwischen 1969 und 1998 3500 Todesopfer forderte.

Provisorium als Dauerzustand

Um einen Rückfall in diesen blutigen Konflikt zu verhindern, einigten sich die EU und Premierministerin Theresa May auf einen "Backstop", eine Auffanglösung. Nordirland, und damit freilich das Vereinigte Königreich, würde so lange in einer Zollunion mit der EU bleiben, bis ein neuer Handelsvertrag zwischen der EU und Großbritannien ausgehandelt wird. In diesem Fall bliebe der freie Warenverkehr garantiert und Grenzkontrollen wären nicht nötig. Wenn aber die Briten weiterhin im Binnenmarkt bleiben, können sie keine eigenen Freihandelsabkommen abschließen. Die radikalen Brexit-Anhänger und die nordirische Protestantenpartei DUP lehnen das vehement ab, weil sie fürchten, dass aus einem befristeten Provisorium ein Dauerzustand werden könnte.

Ohne Backstop würde aber eine kontrollierte Grenze unvermeidbar. Dass ein Rückfall in den blutigen national-religiösen Konflikt eine reale Gefahr ist, zeigte vor etwa vier Wochen die Explosion einer Autobombe in der nordirischen Grenzstadt Londonderry – die erste seit vielen Jahren, glücklicherweise ohne Opfer. Der Frieden zwischen der souveränen Republik Irland und Nordirland innerhalb des Vereinigten Königreichs steht auf dem Spiel.

Es geht aber auch um die wirtschaftliche Zukunft Großbritanniens. Ökonomen schätzen, dass die Brexit-Debatte bereits 1,5 bis 2,5 Prozent des BIP gekostet hat, und warnen vor enormem Schaden im Falle eines chaotischen Austritts ohne Regelungen. Die meisten britischen Politiker handeln nicht schlafwandelnd, sondern von Anfang an aus kurzfristigem Machtkalkül. Das gilt nicht nur für die konservativen Nationalisten, sondern auch für die Labor-Opposition, die mit der Ablehnung der Bemühungen Mays um Zeitgewinn auf Neuwahlen abzielt. (Paul Lendvai, 18.2.2019)