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Wie sieht der größte gemeinsame Nenner zwischen Unesco-Weltkulturerbe...

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... und moderner Stadtentwicklung aus? Matera, Kulturhauptstadt Europas 2019.

Foto: DER STANDARD/Wojciech Czaja

Zehn Uhr. Die Kirchenglocken haben es gerade klanghaft gemacht. Im süditalienischen Stundensystem ist dies die turbulenteste Zeit des Tages. Kinder rennen über die Piazza, Donne gehen über den Markt und machen Besorgungen fürs Abendmahl, ältere Signori stehen am Straßenrand und unterhalten sich über den neuesten Tratsch, den sie in der Gazzetta dello Sport gelesen haben. Das Klischeebild, das in vielen Städten in Apulien, Kalabrien und in der Basilicata noch den Alltag prägt, gehört in Matera, Kulturhauptstadt Europas 2019 und eine der ältesten Städte der Welt, jedoch der Vergangenheit an. Es ist still und menschenleer.

In einem der beängstigend ausgestorbenen Corti im Sasso Barisano, im Unesco-geschützten Felsenbezirk, befindet sich eine kleine Baustelle. Ein Hinterhof in der Via Sette Dolori, das Echo hallt durch die steinernen Gassen, ein Bauarbeiter, Jogginghose und Arbeitshandschuhe, saniert eines der uralten Felsenhäuser, das mit einiger Verspätung zum Kulturhauptstadtjahr fertig werden soll. In einem Monat werden die Menschenmassen erwartet, für die man die historische Innenstadt herausgeputzt und eigens Airbnb-Apartments, Wellnesstempel und echte türkische Bäder geschaffen hat.

Kein Einzelfall

"Das Problem von Matera ist leider kein Einzelfall", sagt Denis Ricard, Generalsekretär der Organisation of World Heritage Cities (OWHC) mit Sitz in Québec, Kanada. "Wir kennen viele Städte, in denen es nicht gelingt, die Kür des Unesco-Weltkulturerbes mit den Anforderungen an eine wachsende, dynamische Stadt miteinander zu vereinbaren. Die Folge ist, dass viele Menschen aus den denkmalgeschützten Innenzonen abwandern und sich am Stadtrand niederlassen, während das Zentrum mehr und mehr zu einem touristischen Open-Air-Museum verkommt." In Matera, das seit 1993 als Unesco-Weltkulturerbe firmiert, ist dieser Prozess besonders fortgeschritten. Die mehrgeschoßigen Wohnhausanlagen in der Peripherie sind längst Teil der Skyline. Auf den Fotos sind die Betonklötze nie zu sehen.

1092 Welterbestätten

"Es ist ein Unterschied, ob die Unesco ein singuläres Bauwerk, ein kleines Gebäudeensemble oder eine zusammenhängende Innenstadt unter Schutz stellt", so Ricard. "Daher setzen wir uns dafür ein, diese Unterschiede anzuerkennen und das Weltkulturerbe entsprechend differenziert handzuhaben." Das Interesse scheint groß zu sein: Unter den weltweit 1092 Unesco-Welterbestätten gibt es mehr als 300 städtische Gemeinden, die sich der OWHC angeschlossen haben, weil sie sich mit dem Weltkulturerbe nicht nur Glanz und Glorie eingekauft haben, sondern auch so manch operative, logistische, infrastrukturelle Pein.

Unesco-Schutzgebiet Wien

Die vielleicht prominenteste OWHC-Mitgliedsstadt in der Unesco-Kartei ist Wien. Seit Juli 2017 befindet sich die Wiener Innenstadt, eines der größten Unesco-Schutzgebiete der Welt, auf der Roten Liste. Ausschlaggebend dafür seien der laxe Umgang mit Investoren, der fehlende, wiewohl verpflichtende Managementplan sowie die allzu weit auseinanderklaffenden Systemfehler zwischen Denkmalschutz (singuläre Bauwerke), Wiener Schutzzonen (Straßenzüge und Ensembles) und Unesco-Kern- und Pufferzone (zusammenhängendes Gebiet). Am aktuellen Heumarkt-Projekt verdichten sich die seit dem Unesco-Beitritt 2001 akkumulierten und bislang kaum gelösten Stadtplanungsprobleme zum scheinbar kulturpolitischen Super-GAU.

Spannungsfeld

"Wien ist eine wachsende Stadt, in der viele Dinge im Spannungsfeld zwischen dem historischen Erbe und den Anforderungen an eine moderne Smart City sehr gut gelöst sind", erklärt Erst Woller, Erster Wiener Landtagspräsident (SPÖ), auf Anfrage des STANDARD. "Es kann doch nicht sein, dass in einem so großen Schutzgebiet ein einziges Projekt imstande ist, das Unesco-Weltkulturerbe zu gefährden. Das steht in überhaupt keiner Relation! Viele Großstädte in aller Welt haben mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Unser politisches Ziel ist es, diese Herausforderungen transparent zu machen und uns anzuschauen, wie wir voneinander lernen können."

Konferenz in Wien

Als Zeichen für dieses schrittweise Aufeinander-Zugehen lud die Stadt Wien in Zusammenarbeit mit der OWHC letzte Woche zu einem Workshop und einer Konferenz ins Wiener Rathaus. Unter dem Titel "Preservation, Development and Management of World Heritage in Dynamic Cities" diskutierten Experten und Bürgermeisterinnen aus rund 25 Städten aus aller Welt: Prag, Brügge, Dubrovnik, Sankt Petersburg, Baku, Istanbul, Tel Aviv, Puebla, Suzhou und viele mehr. Am Ende der Konferenz wurde die "Vienna Declaration" präsentiert, ein miteinander ausgearbeitetes Rahmenwerk, in dem die nötige Balance zwischen Erhalt und Entwicklung in 18 Punkten festgehalten ist.

"Weltkulturerbestätten sind lebende Organismen, deren Existenz nur dann erhalten werden kann, wenn man ihnen die Möglichkeit kontinuierlicher Veränderung und einer Ausgewogenheit zwischen Erhalt, Entwicklung und Management einräumt", heißt es gleich zu Beginn des Papers. "Es gibt dringenden Bedarf an Weiterentwicklung. Die nötigen Stadtplanungsstrategien sollten daher berücksichtigt und mit der historischen Stadtlandschaft in Einklang gebracht werden." Im März, so der Plan, will die Organisation of World Heritage Cities die Deklaration in Québec vorstellen und auf institutioneller Ebene zu einer weltweit gültigen OWHC Declaration ausbauen.

Kommunikationsangebot oder Kampfansage

Fraglich bleibt, wie die Unesco darauf reagieren wird. Entweder versteht sie die Deklaration als Kommunikationsangebot, um in Kooperation mit Icomos, OWHC und den betroffenen Welterbestädten zukunftsfähige Konzepte auszuarbeiten – oder aber als Kampfansage und Kritik an der bestehenden Unesco-Politik. "Ich habe vorerst noch ein großes Fragezeichen, was nach der Deklaration anders sein soll als davor", erklärt Mechtild Rössler, Direktorin des Unesco-Welterbezentrums in Paris. "Fakt ist: Wir können die Konvention nicht aufweichen und zwischen Städten und Nichtstädten ein Zwei-Klassen-System einführen. Aber meine Tür steht offen. Ich bin bereit zum Gespräch."

Die Türen in Matera sind längst zugefallen. Die Einheimischen sind ausgezogen und haben den Kern einer der ältesten Städte der Welt hinter sich gelassen. Die Kulturhauptstadt Europas 2019 wirft wichtige Fragen auf. Und eine Erkenntnis: Die Welt darf nicht Matera werden. (Wojciech Czaja, 24.2.2019)