Der 39-jährige Fidèle Anato hat das Dorf der Märchen gegründet, um die traditionsreichen Geschichten zu bewahren, aber auch, um wieder ein Gefühl der Gemeinschaft herzustellen.

Foto: Katrin Gänsler

Archimède Kossou strahlt Routine und Gelassenheit aus. Wenn der 19-Jährige im Dorf der Märchen Adjrou'houé auf der Bühne steht, ist von Lampenfieber nichts zu spüren. Er braucht nicht einmal einen zweiten Schauspieler, um die 30 kleinen Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. Eine sparsame Gestik und ein spannendes Märchen reichen, und keines der Kinder sagt nur ein Wort. Dafür erhält er am Ende der Vorführung kräftigen Applaus. Kossou verbeugt sich und steigt strahlend von der Bühne, die am Rande der Stadt Abomey-Calavi im Süden Benins liegt.

Vor fünf Jahren ist er selbst noch im Publikum gesessen. Damals fing er an, das Dorf der Märchen regelmäßig zu besuchen. Gegründet hat es der 39-jährige Fidèle Anato, der ebenfalls Schauspieler ist. Jeden Mittwoch lädt er die Kinder der Umgebung zu einer Vorführung ein. Am Wochenende organisiert er Workshops und Konzerte. Offen steht den Besuchern auch die Bibliothek, für die er extra ein kleines Haus errichtet hat. "Es ist Benins erste private Märchensammlung."

Ein Leben ohne Märchen kann sich Anato nicht vorstellen. Er wuchs mit den alten Geschichten auf, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Dafür zogen noch vor Jahrzehnten die Geschichtenerzähler von Dorf zu Dorf. Als sie kamen, versammelten sich zuerst die Kinder, später die Erwachsenen. Diese Tradition ist im Zeitalter von Fernsehen und Smartphones fast völlig verschwunden. Für Anato betrifft das jedoch nicht nur die Geschichten selbst, sondern auch einen besonderen Sinn von Gemeinschaft. "Man hat zusammen gegessen, zusammen getrunken, zusammen ein Märchen gehört."

Traum vom Erzähler

Bei Archimède Kossou hat es geklappt. "Märchen sind alles für mich", schwärmt er, "ich frage mich, was ich für sie tun kann." Er steht nicht nur regelmäßig auf Anatos Bühne, sondern studiert auch Schauspiel am Nationalen Institut für Kunst, Archäologie und Kultur. Wenn er fertig ist, möchte er als Comedian, vor allem aber als Märchenerzähler arbeiten.

In Benin, etwa bei den Fon, einer Ethnie, die im Süden lebt, hatten Märchen stets eine große Bedeutung. "Sie erzählen, was vor meiner Zeit passiert ist, und stellen Regeln für das Zusammenleben auf", sagt Gladys Makou Houeffa, die Frau von Fidèle Anato. Im Pakt der Tiere diskutieren etwa Löwe, Panther, Fuchs, Schlange und Grille Vorschriften für das Leben in der Gemeinschaft und Sanktionsmaßnahmen für jene, die sie nicht einhalten. In anderen werden die Zuhörer zu Ehrlichkeit und Respekt ermahnt. In Der Regenwurm und sein Onkel geht es um einen Schmied, der für die Bewohner der Tierwelt die Knochen herstellt. Nur der Regenwurm winkt ab und sagt: "Der Schmied ist mein Onkel. Ich muss mich nicht beeilen." Doch als dieser stirbt, bleibt der Regenwurm als einziges Tier ohne Skelett zurück und muss bis zum heutigen Tage kriechen.

Vergleich mit Grimm

"Deshalb sagt man bei den Fon: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen", sagt Mensah Wekenon Tokponto, der die Geschichte vom Regenwurm zu seinen Lieblingsmärchen zählt. Er ist Germanistikprofessor, verglich in seiner Doktorarbeit an der Universität Bielefeld in Deutschland Märchen der Fon und der Gebrüder Grimm und setzte die alten Erzählungen an der Universität Abomey-Calavi auf den Lehrplan. "Mit Märchen haben Studenten in ihren Dörfern immer zu tun gehabt. Sie wussten aber nicht, dass man dazu auch wissenschaftlich arbeiten kann."

Wie gut das funktioniert, hat sich in der Germanistik längst herumgesprochen. Mehr als 60 Magisterarbeiten über Märchen hat der Professor betreut. Regelmäßig schickt er seine Studenten mit Tonbandgeräten in die Dörfer. Anschließend werden die alten Geschichten aufgeschrieben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Es ist sein Beitrag zum Erhalt der Märchen, denen am 26. Februar weltweit der inoffizielle "Erzähl-ein-Märchen-Tag" gewidmet ist.

Im Dorf der Märchen schüttelt Archimède Kossou energisch den Kopf. Trotz aller Herausforderungen kann er sich ein Leben ohne die Erzählungen nicht vorstellen. "Die Märchen werden in Benin immer ihren Platz haben", ist er überzeugt. (Katrin Gänsler aus Abomey-Calavi, 26.2.2019)