"Der Chefredakteur der Grazer 'Kleinen Zeitung' verfasste für die Titelseite der Dienstag-Nummer einen Appell an die Vernunft, der aber nur vordergründig an die Vernunft gerichtet, hintergründig an die türkis-blaue Koalition adressiert war – ein Widerspruch in sich, mit dem sein Scheitern von vornherein feststand." Im Bild: Kanzler Sebastian Kurz und Vize Heinz-Christian Strache nach dem Ministerrat am 13. Februar 2019.

Nicht nur Politiker, auch Journalisten neigen gelegentlich zur Selbstüberschätzung. So verfasste der Chefredakteur der Grazer "Kleinen Zeitung" für die Titelseite der Dienstag-Nummer einen Appell an die Vernunft, der aber nur vordergründig an die Vernunft gerichtet, hintergründig an die türkis-blaue Koalition adressiert war – ein Widerspruch in sich, mit dem sein Scheitern von vornherein feststand. Es ging um einen Aufruf an die Regierung, von einem entwerteten Karfreitag Abstand zu nehmen.

Hubert Patterers Intervention war umso ehrenwerter, als er nach langer beruflicher Erfahrung keinen Zweifel daran haben konnte, dass Journalisten die Letzten sind, von denen sich Politiker zur Vernunft bringen lassen. Es soll Fälle geben, in denen sie sich von den Wählerinnen und Wählern kurzfristig in besagten Zustand versetzen lassen, gewöhnlich, aber durchaus nicht immer, im Gefolge einer Niederlage. Kolleginnen und Kollegen, die Regierende an die Vernunft ketten wollen, kleiden diese Versuche daher kaum je in die Form von Appellen, sondern versuchen es lieber mit Textsorten, bei denen es weniger auffällt, wenn deren Vernunftseinforderungen den Angesprochenen an wer weiß welchen Körperteilen vorbeigehen.

Appelle an die Unvernunft

Größeren Erfolg haben Journalisten bei Regierenden mit Appellen an deren Unvernunft, wie der Einfluss des Boulevards auf Regierungsentscheidungen täglich aufs Neue beweist. In dieser Konstellation kann sich das Appellieren reziprok zu einer für beide Seiten fruchtbaren Symbiose entfalten, etwa wenn aus der Politik der Appell an ein Medium erfolgt, doch um der Vernunft willen schon einmal einen Chefredakteur auszutauschen.

Kommt es trotz historisch bewiesener Aussichtslosigkeit hie und da dennoch zu einem Appell an die Vernunft einer Regierung, ist immer zu bedenken, dass man von niemandem mehr verlangen darf, als er zu geben imstande ist. Ultra posse nemo tenetur, wussten schon die alten Römer, und gegen deren Weisheit hat Hubert Patterer zweifellos verstoßen, forderte er doch von der Regierung: Setzen Sie sich mit den Glaubensgemeinschaften und Interessenverbänden an einen Tisch und erarbeiten Sie einen Kompromiss, der dem Zusammenhalt im Land dient und nicht der Zwietracht. Um diesem Appell zu folgen, hätte die Koalition ihre Regierungsmaxime des kaltschnäuzigen Durchziehens über Bord werfen müssen, also eben das, was sie für Vernunft hält.

Da kam er bei der Sozialministerin schlecht an

Auch das wollte der Chefredakteur Kurz und Strache zumuten: Die Ökonomie kann in einer religiös, kulturell und geschichtlich so substanziellen Frage nicht das alleinige Richtmaß der Politik sein. Da kam er aber bei der Sozialministerin schlecht an, die ihm und anderen einen Tag später von der Regierungsbank entgegenkreischte: "Die Wirtschaft schafft die Arbeitsplätze, merken Sie sich das!"

Mehr ein Appell an das Gefühl als an die Vernunft war da der Aufschrei: Wir wollen nicht glauben, dass Sie als Regierende, die die Wahrung des christlichen Erbes an anderer Stelle so feurig hervorheben, einer solchen Entwertung und Einebnung Vorschub leisten. Also wenn es sonst nichts ist und die Wahrung des christlichen Erbes so feurig ohnehin nur dann hervorgehoben wird, wenn es gegen Muslime geht, hat die Regierung damit gar kein Problem gehabt.

Apotheose der reinen Vernunft

Natürlich ist es schade, dass Hubert Patterers Appell an die Vernunft nur insofern Erfolg beschieden war, als seinem Appell, der Karfreitag verbietet sich für eine Zerstückelung, mit dessen Umwandlung in einen unzerstückelten "persönlichen Feiertag" gefolgt wurde. Letztlich kann der Chefredakteur der "Kleinen Zeitung" aber doch einen Triumph verbuchen, handelt es sich bei der Regelung, dass Arbeitende künftig einseitig bestimmen dürfen, wann Karfreitag ist, diese Selbstbestimmung aber drei Monate vorher schriftlich anmelden müssen, obwohl der Unternehmer einseitig und selbstbestimmt ohnehin nichts dagegen haben darf, geradezu um eine Apotheose der reinen Vernunft, wie man sie in keiner anderen Regierung dieser Welt für möglich hält.

Moses und "Zur Zeit"

Noch mehr Vernunft auf ein Titelblatt zu bringen blieb dem Magazin "Zur Zeit" vorbehalten, wo ein Moses – ja, der mit den steinernen Tafeln – als Kronzeuge freiheitlicher Hoffnungen abgebildet wurde. Menschenrechtskonvention: In Stein gemeißelt? Was Moses den Blauen sagen wollte, dann im Blattinneren: "Die Menschenrechtsjudikatur ist Fremdherrschaft." (Günter Traxler, 2.3.2019)