Roland Fürst: Wir könnten uns unverkrampfter darüber unterhalten, welche Zuwanderung wir wollen und brauchen.

Foto: APA/AFP/CHRISTOF STACHE

Das Zitieren von Studien, um der eigenen Meinung mehr Substanz zu verleihen, ist mittlerweile Bestandteil jeder niveaulosen Politikshow geworden genauso wie in der Berichterstattung von Medien.

Ein STANDARD-Interview mit dem Titel "Es ist rational, nach unten zu treten" wird mit dem Satz "Österreich ist auf Zuwanderung angewiesen" eingeleitet. Dies wird wie ein Mantra von einigen Medien, politischen Parteien und anderen Gruppen vor sich hergetragen, ohne es jedoch kritisch zu hinterfragen. Es würde sich lohnen, einmal zu recherchieren, welchem ideologischen Paradigma dieser Mythos zugrunde liegen könnte.

Ungerechtes System

Man könnte ihn nämlich auch aus einer neokapitalistischen Haltung heraus erzählen, denn er stellt fast ausschließlich auf ökonomische Gründe ab: Zuwanderung soll die Wertschöpfung sicherstellen, den Generationenvertrag erfüllen, die geringe Fertilitätsrate der Österreicher ausgleichen und den Bedarf von Pflegekräften und den Niedriglohnsektor absichern.

Aus einer antikapitalistischen Haltung könnte man kritisieren, dass wir Zuwanderung nur deswegen benötigen, weil wir ein hochkapitalistisches und somit ungerechtes System aufrechterhalten wollen, in dem eine Verteilungsungerechtigkeit herrscht, die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. In dem die arbeitende Bevölkerung dermaßen ausgebeutet und gesundheitlich ruiniert wird, damit sie dann viel zu früh in Pension geht. In dem ein derart kinderfeindliches Klima herrscht und Kinderbekommen mit erheblichen finanziellen Einbußen einhergeht und in dem für die Drecksarbeit moderne Sklaven gebraucht werden, die ohne viel Murren die Arbeit machen, damit keine anständigen Löhne gezahlt werden müssen, von denen die Menschen leben können.

Kapitalistisches Mantra

Es verwundert jedes Mal, wenn Qualitätsmedien, linke Parteien oder Bewegungen völlig unkritisch dieses kapitalistische Mantra bedienen, weil sie glauben, mit diesem Mythos andere Mythen dekonstruieren zu können. Das Motto: Der Mythos braucht einen Gegenmythos. Das Mantra könnte aber genauso gut unter der Prämisse der kulturellen Vielfalt und Weltoffenheit diskutiert werden. Dann wäre ein Bekenntnis, dass Österreich ein Einwanderungsland ist, nicht mehr so schmerzhaft. Wir könnten uns unverkrampfter darüber unterhalten, welche Zuwanderung wir wollen und brauchen. Dann wäre auch einmal eine halbwegs ehrliche Diskussion über Fragen wie "Was war Österreich?", "Was ist Österreich?" und "Wo soll sich Österreich hinentwickeln?" möglich. Es könnte vielleicht eine gemeinsame Klammer gefunden werden, von Andreas Gabalier zu Stefanie Sargnagel quasi.

Stattdessen wird gerade in linksliberalen Medien mit willfähriger Unterstützung der Wissenschaft versucht, eine "Gegenwirklichkeit" zum Boulevard und der rechtskonservativen Regierung zu zeichnen. Die Wissenschaftsgläubigkeit in Österreich sitzt tief. Aber niemand ist im Besitz der Wirklichkeit, auch nicht die Wissenschaft – und Vorsicht vor jenen, die behaupten, sie besitzen die Wahrheit. Nichtsdestotrotz erfüllt die Wissenschaft ihren guten Dienst, wenn sie nicht versucht, in die Politik einzugreifen, um als Wissenschaft getarnt die eigenen Ideologien zu verbreiten. Frei nach Hannah Arendt will die Wissenschaft, die in die Öffentlichkeit eingreift, nicht mehr nur Wahrheit, sondern Macht. Und so haben Qualitätsmedien in einer immer komplexer werdenden Welt die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren und ausgewogen zu informieren, ohne Mythen, Gegenmythen und Vorzensur. Den Menschen kann man es zumuten. (Roland Fürst, 3.3.2019)