Kaja Kallas, Wahlsiegerin

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Tallinn – Bei der Parlamentswahl in Estland ist die oppositionelle Reformpartei zur stärksten Kraft aufgestiegen und das bisherige Regierungsbündnis abgewählt worden. Gleichzeitig erzielten die Rechtspopulisten nach Auszählung aller Stimmen am Sonntagabend einen deutlichen Stimmenzuwachs, wodurch sie künftig als drittgrößte Partei in der Volksvertretung Riigikogu sitzen.

Damit folgt das EU- und NATO-Mitgliedsland einem Trend, der zuvor schon in anderen europäischen Ländern zu beobachten war.

Bisherige Regierung verliert Mehrheit

Die wirtschaftsliberale Reformpartei von Spitzenkandidatin Kaja Kallas kommt nach Angaben der Wahlkommission in Tallinn auf 34 von 101 Sitzen. Dahinter folgt die linksgerichtete Zentrumspartei von Regierungschef Jüri Ratas (26 Mandate). Mit 19 Sitzen schob sich die rechtspopulistische Estnische Konservative Volkspartei (EKRE) an Ratas' Bündnispartnern vorbei: Nach den Stimmenverlusten der konservativen Partei Isamaa (12 Sitze) und der Sozialdemokraten (10 Sitze) hat die bisherige Regierung keine Mehrheit mehr.

Kaja Kallas schlägt zu.

Welche Koalition nun zustande kommen wird ist noch offen. Auf eine Regierungsbeteiligung darf die EKRE trotz eines Zugewinns von 12 Sitzen im Vergleich zu 2015 allerdings kaum hoffen – die Reformpartei und die Zentrumspartei schlossen bereits vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit der europa- und zuwanderungskritischen Partei aus. Diese konnte mit ihrer Rhetorik besonders bei Menschen in ländlichen Gebieten punkten, die sich trotz der positiven Wirtschaftsentwicklung abgehängt fühlen. Auch ihre Kritik an der EU-Flüchtlingsverteilung kam bei vielen Wählern an – obwohl es in Estland praktisch kaum Flüchtlinge gibt.

Keine Zusammenarbeit mit Rechtspopulisten

Die Reformpartei-Frontfrau Kallas bekräftigte nach der Wahl ihr Nein zu einem Bündnis mit den Rechtspopulisten. Ansonsten zeigte sie sich offen: "Wir behalten alle Koalitionsoption auf dem Tisch und müssen die Dinge durchsprechen. Die Verhandlungen beginnen gerade erst", sagte sie im estnischen Fernsehen. Kallas verwies allerdings auch auf Differenzen mit der Zentrumspartei bei den Themen Steuern, Staatsbürgerschaftsrecht und Bildung.

Ratas kündigte an, sein Möglichstes zu unternehmen, damit die Zentrumspartei auch der nächsten Regierung angehören wird. Er signalisierte, dass die vor allem von der starken russischsprachigen Minderheit in Estland gewählte Partei auch bereit wäre, als Juniorpartner einer Koalition beizutreten.

Wirtschafts- und sozialpolitische Themen standen im Vordergrund des Wahlkampfes im baltischen Staat, der zuletzt durch den riesigen Geldwäscheskandal bei der estnischen Filiale der Danske Bank in die Schlagzeilen kam.

Stimmabgabe via E-Voting

Eine Besonderheit der Wahl war die Abstimmung im Internet, die Estland als erstes Land in Europa eingeführt hat. Mehr als ein Viertel der Wahlberechtigten entschied sich für das sogenannte E-Voting – ein Rekord. Die Wahlbeteiligung lag bei 63,1 Prozent.

"Jetzt beginnt die wirkliche Arbeit, eine Regierung zu bilden und das Land mit Vernunft zu führen", sagte Kallas am Wahlabend dem Sender ETV/ERR. Zugleich sprach Kallas von großen Meinungsverschiedenheiten mit der Zentrumspartei unter anderem bei Steuer- und Bildungspolitik.

Die Reformpartei könnte eine Koalition mit den Sozialdemokraten und Pro Patria eingehen – oder aber eine Art Große Koalition mit der Zentrumspartei. Der bisherige Regierungschef Ratas antwortete auf die Frage, ob die Zentrumspartei als Juniorpartner zur Verfügung stünde, mit "natürlich".

Zentrumspartei und Reformpartei regierten die ehemalige Sowjetrepublik in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten abwechselnd, teilweise auch gemeinsam in einer Koalition. Beide Parteien unterstützen die EU- und NATO-Mitgliedschaft des Landes und stehen für eine Begrenzung der öffentlichen Ausgaben. (APA, 4.3.2019)