Der tschechische Autor Jaroslav Rudiš (46) schreibt nunmehr auch auf Deutsch.

von Felbert

Jaroslav Rudiš: "Winterbergs letzte Reise". Roman. € 24,70/544 Seiten. Luchterhand: München 2019.

Foto: Luchterhand

Charon ist einer der ehrwürdigsten Dienstleister, den die mythologische Überlieferung kennt. Als Fährschiffer geleitet er die Verstorbenen in die Unterwelt. Seine Paddelschläge lässt er sich mit Münzen abgelten. Auch Jan Kraus ist praktizierender Sterbehelfer. Als eher depressiv gestimmter Nachfahre Charons sucht der Tscheche aus Vimperg, dem früheren Winterberg, häufig Trost im Bier.

Kraus, eine Erfindung des Romanciers Jaroslav Rudiš, ist eine der großen, Zeugenschaft ablegenden "Nebenfiguren", von denen es in der Weltliteratur wimmelt. Ein Serenus Zeitblom (Tomas Mann, Doktor Faustus), der auf raffinierte Weise die Erzählanordnung seines Schöpfers doubelt. Der Roman Winterbergs letzte Reise ist Rudiš‘ erstes auf Deutsch verfasstes Buch und aktuell für den Preis der Leipziger Buchmessse nominiert. Es handelt von einem gebrochenen Mann, der bereits in der Epoche des Kalten Krieges der damaligen ČSSR den Rücken kehrte. Seine Angehörigen stieß Kraus mit seiner Flucht ins Verderben. Sich selbst brachte der Schweigsame ins (West-)Gefängnis.

Mit dem Baedeker in der Hand

Lebensmüden gegenüber ist der tschechische Charon nicht ungefällig. Den fast hundertjährigen Wenzel Winterberg, einen seit 1967 emeritierten Straßenbahnfahrer mit Alterswohnsitz in Berlin, begleitet er auftragsgemäß auf einer Bahnfahrt quer durch Mitteleuropa. Das ungleiche Paar begibt sich auf Spurensuche. Als Führer dient den beiden Winterreisenden ausgerechnet ein Baedeker von 1913.

Man könnte Jaroslav Rudiš‘ neuen, monumentalen, absolut wahnwitzigen Roman der Reiseliteratur zuschlagen. Allerdings jener Unterabteilung, in der man als Reisebegleiter froh ist über jede Seite, die den Figuren geschenkt wird. Immer schon war Erzählkunst (auch) als lebensverlängernde Maßnahme gedacht. Gestorben wird erst, wenn der Buchdeckel geschlossen ist. Rettungslos verloren ist eine Figur nur dann, wenn sich ihrer niemand entsinnen kann.

Gegen preußische Gewehre

Andere Romanhelden setzen sich gegen einen stillschweigenden Verlust von Fleisch und Blut redend zur Wehr. Der hornbebrillte Greis Winterberg ist ein solcher Schwätzer vor dem Herren: ein unheilbar an Loghorroe erkranktes Männchen. Seinen Reisebegleiter stopft der unmanierliche Greis mit Anmerkungen voll. Diese widmet der Patient aus Reichenberg, dem heutigen Liberec, der k.u.k. Kriegsgeschichte. Sein Leib- und Magenthema ist die Schlacht von Königgrätz von 1866. Damals schlugen die mit überlegenen Zündnadelgewehren ausgerüsteten Preußen das österreichische Heer vernichtend aufs Haupt.

Für Winterberg, die Monologmaschine, ein Wendepunkt in den Annalen des Fortschritts, ein Vorgriff auf kommende Katastrophen. Und Rudiš lässt sich unendlich viel Erzählzeit, um – vorbei an Abstellgleisen – das Herz der moralischen Finsternis anzusteuern. Gemeint ist natürlich das Versagen der Sudetendeutschen gegenüber der nazistischen Verlockung.

Winterbergs letzte Reise

Andere manisch wiederkehrende Themen Winterbergs gehören zum Inventar der verröchelnden Donaumonarchie. Da wäre die schöne Idee der Feuerbestattung, eine Frucht hygienischer Reformbestrebungen. Allmählich wird auch ein Liniengeflecht aus Städtenamen sicht- und hörbar. In dessen Mitte angesiedelt ist das ehemalige Böhmen. Seine Ausläufer reichen weiter, nach Peenemünde (Ostsee) und hinunter in den Süden nach Sarajewo.

Winterbergs letzte Reise rattert dahin wie auf Schienen. Das Buch bezeichnet ein Vorstellungsgespinst, eine imaginäre Heimat, die uns Nachgeborene in Böhmen und in Österreich mit Schuld belädt. Sie versieht uns aber auch mit allen Annehmlichkeiten einer miteinander geteilten Identität. Vor allem aber dürften Winterberg und Kraus, zwei faszinierende Exponenten des alten Europas, Don Quijote und Sancho Pansa auf gemeinsamer Todesfahrt, über leistungsfähige Bahnermäßigungskarten verfügen. Die Preiswürdigkeit dieses famosen Romans ist evident. (Ronald Pohl, 5.3.2019)