Wien und die Wiener Küche im Frühjahr 2019: Berta und Karl Meixner suchen einen Nachfolger für ihr Favoritner Wirtshaus, das seit Jahrzehnten für ihre grandiose Wiener Küche und seine feinsinnige Weinauswahl gepriesen wird. Andrea Karrer und Hanno Pöschl haben ihr mit Herz und Savoir-faire geführtes Gasthaus in der Weihburggasse schon im Vorjahr verkauft. Die Grünauers stehen in nunmehr dritter Generation hinter dem Herd in der Hermanngasse, ganz so göttlich wie einst wollen Kalbszüngerl und Wäschermädeln seit der Übergabe aber nicht mehr schmecken.

Dem Herkner in Hernals, einem Haus von legendärem Ruf, bleibt schon seit 2001 nur noch der Name des genialen Kochs, es wird nach einem Totalumbau als Edelbeisl der schicken Art geführt. Wilhelm Schnattl bekocht sein mythenumranktes Restaurant in der Josefstadt nur noch am Freitag ganztags, den Rest der Woche sind seine hinreißenden Kalbsnieren-Sautés, gebackenen Ochsenschwanz-Krusterln oder mit Kräutern gratinierten Kalbszüngerl dem Mittagsgast vorbehalten. Der Eckel ist immer noch weit draußen in Sievering, die Fahrt dorthin zahlt sich aber nur noch bei unerschütterlicher Sehnsucht nach Kalbsbutterschnitzel und Hummerbisque aus.

Klassisch wienerisch? Mit Pommes sicher nicht, leider kommt das Wiener Schnitzel immer öfter in dieser Begleitung auf den Teller.
Foto: Lukas Friesenbichler

Mit Herz und Respekt bekocht

Und sonst? Ein paar kochende Wirte leben immer noch gut vom Ruf, den sie sich vor langer Zeit erkocht haben, auch wenn längst die Fritteuse zu ihrem beliebtesten Küchenutensil geworden zu sein scheint. Vor zwanzig Jahren, da mag die epochemachende Herrlichkeit der Wiener Küche auch schon einigermaßen blass erschienen sein. Neben den bereits erwähnten Adressen aber gab es doch noch mehrere mit Herz und Respekt bekochte Gasthäuser, in denen das Erbe hochgehalten wurde.

Vikerls Lokal gehörte dazu, wo Adi Bittermann sich lange vor seinen Ambitionen als Grillweltmeister und noblicher Landhausrestaurateur in einem Vorstadtbeisl zu den Niederungen von Bruckfleisch und böhmischen Knödeln herabbeugte. Oder das Königsbacher in der Walfischgasse, ein prachtvolles Beisl mit täglich frisch geschriebener Karte, herausragendem Bier und legendärem Kalbsgulasch, das längst einem der zahlreichen Plachutta-Outlets weichen musste, die einem heute als typisch wienerisch untergeschoben werden.

Im Korso ordinierte Reinhard Gerer als zusehends umwölkter Küchengott, mit etwas Glück aber konnte man dort gerade noch seines grandiosen Kalbskopfs, seines unerreichten Ritscherts oder sonst einer zu Haute Cuisine hochgezwirbelten Gemeinheit der heimischen Küche teilhaftig werden, statt mit Kalbsrücken und Zuchtsteinbutt abgefertigt zu werden wie die Hotelgäste.

Im Steirereck war Klachlsuppe ebenso wenig wegzudenken wie Hummer oder andere noble Meeresfrüchte, die heute, dem Diktat einer fragwürdigen Regionalität folgend, aus so gut wie allen hochklassigen Restaurants der Stadt verbannt wurden. Wobei, bei Lukas Mraz und Konstantin Filippou dürfen sie sich wieder aus der Deckung wagen. Dass gefeierte Luxusrestaurants wie die ihren keine Speisekarte, sondern ausschließlich ein Menü anbieten (das sich in Mraz' Fall aber, großer Unterschied, so gut wie täglich wandelt), hätte man sich vor zwanzig Jahren bestenfalls in einer entlegenen Destination vorstellen können, aber nicht in der zweitgrößten deutschsprachigen Stadt Europas.

Gefeierte Stars

Bevor es jetzt so wirkt, als ob hier ein mieselsüchtiger Abgesang auf alles, was immer schon schlechter geworden ist, angestimmt werden soll, ganz schnell ein paar Jubelmeldungen, die uns den Glauben an die Kraft der Wiener Gastronomie zurückgeben. Die eben genannten Stars werden auf Fressfestivals auf der ganzen Welt ebenso herumgereicht wie Heinz Reitbauer, der das Steirereck mit seiner hochpersönlichen Weiterentwicklung heimischer Küchenkunst als eines der aufsehenerregendsten und meistgefeierten Restaurants der Welt positionieren konnte.

Lukas Mraz kocht in der Brigittenau auf eine Art entspannt und auf dem Punkt, dass sich die Auskenner aus Paris und London schon anstellen, um von seiner Kunst kosten zu dürfen. Junge Köchinnen und Köche wie Anna Haumer im Blue Mustard (nur noch bis Ende März dort!) oder Walter Leidenfrost im Ludwig Van (seit dieser Woche nicht mehr dort) zeigen, dass die ganz tollen jungen Genies nicht nur in Neufelden an der Mühl, Straden oder Zug am Arlberg (mit Milena Broger und Max Natmessnig ein unfassbar aufregend bekochter Weiler!) zu Hause sind, sondern eben auch in Wien.

Ethno-Food

Vor allem hat sich Wien in der Zeit des RONDO auch kulinarisch sehr bemerkenswert in Richtung Weltstadt entwickelt. Die Vielfalt der Küchen und die Qualität, in der sie zu haben sind, bereichern die Lebensqualität der Stadt auf kaum zu überschätzende Weise.

Japan ist nicht nur geografisch am allerweitesten von Wien entfernt, daran hat sich auch kulinarisch nicht wahnsinnig viel geändert – speziell Sushi ist, nicht zuletzt aufgrund der vergleichsweise geringen Nachfrage nach wirklich gutem Meeresfisch in der Stadt, sehr eingeschränkt in guter Qualität verfügbar. Dafür gibt es immer mehr gute Izakaya-Hütten, vom Shokudo Kuishimbo in der Esterházygasse über das neue, alte Benkei bis zum gefeierten Mochi, das auch beim Service Standards setzt, die in Wien geradezu exotisch gut anmuten.

Ramen machen sie im eigenen Standl am Vorgartenmarkt, das Shoyu auf der Seilerstätte bietet ebenso gute Suppen und ist nur ein paar Häuser vom ganz neuen Ganko weg, wo Zaw Zaw Tun Fleisch und Innereinen in kompromisslos japanischer Qualität grillt.

Korea ist stark im Kommen, die herzhaft raffinierte Küche wird mittlerweile im Sura in der Singerstraße aufmerksam gepflegt, handfester (aber um nix weniger gut) geht es im Seoul an der Praterstraße, dem Babida am Morzinplatz oder dem Han am Stadtpark zur Sache. Ein wahrhaftiger China-Cluster hat sich rund um den Naschmarkt gebildet, das hätte man sich vor 20 Jahren auch nicht träumen lassen: von nordostchinesischen Herrlichkeiten im Yummy House bis zu Sichuan-Küchen-Gemeinheiten im No. 27 und, ganz frisch, im Feine Sichuanküche in der Kettenbrückengasse wo, ein paar Häuser Richtung Wienzeile, auch Wang Shaohua seine fantastischen Wantan, Jiaozi und andere Nudeltaschen faltet.

Mehr als ordentliche Pekingente gibt es inzwischen auch, im Chinazentrum zum Beispiel, bei One Night in Beijing in Nußdorf oder, auf Vorbestellung, im Sinohouse an der Nußdorfer Straße.

Vietnam statt Japan

Vietnamesische Kost ist längst dabei, der japanischen den Rang als beliebtestes Ethno-Food der Wiener abzulaufen. Die vom Aroma frischer Kräuter vibrierende, unheimlich leichte und doch geschmackvolle Küche wird etwa im Vietthao am Karlsplatz, im Pho House in der Lerchenfelder Straße und, neu, in der ehemaligen Marktlücke – nunmehr Nguyens – in der Großen Mohrengasse auf überzeugende Weise zelebriert.

Wobei, was ist eigentlich Ethno-Food? Wer Kebab, Pizza, Burger und den anderen Convenience-Müll dazuzählt, kommt natürlich erst nach einer Weile auf Japan. Einen guten Türken hat Wien in den vergangenen Jahren aber schon bekommen, Ali's Grill in der Operngasse nämlich, wo nicht nur die Spieße aus der Glutgrube Klasse haben, sondern auch die kalten Vorspeisen.

Wie toll Pizza sein kann, wissen die Wiener längst nicht nur aus den Ferien, sondern von Authentizitätsstrebern wie Riva, La Spiga, Pizzaquartier und etlichen anderen – der Pizzaboom der vergangenen Jahre hatte es in sich, ein Ende ist keineswegs abzusehen.

Indien zeigt im Nirvana an der Rotenturmstraße hochklassig würzig auf, der Libanon kann es im Elissar in der Johannesgasse, Thailand begeistert mit einem der wohl besten Thais Europas, dem All Reis auf der Schweglerstraße, ebenso wie mit dem hochcharmanten Mamamon in der Albertgasse.

Weiterentwickeln!

Das Meinungsklima im Land ist zwar nicht gerade von kultureller Offenheit geprägt, aber das war es Ende des 19. Jahrhunderts, als die Wiener Küche sich wie ein Schwamm mit Einflüssen von anderswo zu epochaler Größe anzusaufen begann, beileibe auch nicht. Es spricht also nichts dagegen, dass sie sich endlich an sich selbst ein Beispiel nimmt, aus dem Faulbett vergangenen Ruhms erhebt, um sich ein bisserl umzuschauen.

Nein, Blunzenmaki und Schnitzelpizza sind sicher keine möglichen Richtungen. Aber eine Weiterentwicklung der Rindsuppe mit Einlagen hin zu einer bekömmlichen, variantenreichen Hauptmahlzeit nach ostasiatischem Vorbild könnte doch ein Anfang sein. Und dass Gurken- und Erdäpfelsalat nicht zwangsweise aus dem Kübel geschöpft werden müssen, statt, wie Papayasalat in Vietnam oder Gurkensalat in Sichuan, frisch und elektrisierend gut angemacht zu werden, und dass sie nicht bloß als Rutschhilfe fürs Schnitzel, sondern als Gericht per se satisfaktionsfähig werden könnten, wäre doch auch eine gute Erkenntnis.

Im Stuwer beim Prater haben sie das verstanden, da wird der Langos schon seit vergangenem Jahr als frisch herausgebackene Herrlichkeit neu interpretiert, die nur darauf gewartet hat, mit Beinschinken und Kren, gebeizter Forelle und Kernölmayo oder anderen Unbotsamkeiten aufgemotzt zu werden. Das funktioniert so gut, dass die Betreiber jetzt ein eigenes Lokal aufgemacht haben, wo es nur so Zeug gibt. Und das wird dann am 15. März im RONDO besprochen. (Severin Corti, RONDO, 14.3.2019)

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Restaurantkritik Mraz & Sohn