Rocko Schamoni: Autor, Musiker und Humorist.

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Rocko Schamoni: "Große F20,60 / 256 Seitenreiheit",

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Bevor wir zum neuen Roman Große Freiheit des Hamburger Autors, Musikers und Komödianten Rocko Schamoni kommen, ein paar grundsätzliche Gedanken: In der deutschen Popkultur gibt es nur wenige Sehnsuchtsorte, die dazu taugen, mythisch verklärt zu werden.

München-Schwabing ist mit Freddie Mercury und Munich-Disco untergegangen. Die Kreuzberger Nächte in Berlin waren mit den Gebrüdern Blattschuss lang, wurden von Blixa Bargeld und Nick Cave kurzfristig auf die fünffache Länge gedehnt – spätestens mit dem Herrn Lehmannn war aber nur noch nostalgische Verklärung angesagt. Gibt es eigentlich den großen deutschen Roman, der am Prenzlauer Berg oder im Berghain spielt? Ach, Kinder.

Von allen anderen Städten in Deutschland will man sowieso nichts wissen. Bleibt also nur noch Hamburg. Zumindest mit St. Pauli und der Reeperbahn kann die Hafenstadt, die bezeichnenderweise nicht einmal am Meer liegt, mit ihren alten Leichtmatrosen Hans Albers und Freddy Quinn punkten. Die Beatles haben hier angefangen und Udo Lindenberg ist mit der Andrea Doria abgesoffen. Später hat er Penny Lane genommen und daraus seine Stadtteilhymne Reeperbahn gemacht.

Der Lude als Lebemann

Dass Hamburg-St. Pauli als Anziehungspunkt speziell für Leute aus der Provinz allerdings immer wieder mal funktioniert, zeigte sich nicht nur mit dem Erfolg von Heinz Strunks derzeit auch noch als Verfilmung in den Kinos laufendem Roman Der goldene Handschuh und seinem literarischen Ekelpaket aus Serienmord, Schweralkoholismus und Lebensüberdruss. Auch sein alter Kumpel, das Landei Rocko Schamoni, legt nun bei großem medialen Echo nach.

Rocko Schamoni macht 2019 auch wieder Musik. Zufällig wird im Herbst auch dieses Lied Teil eines neuen Albums sein. Mark Hollis, der frühere Sänger von Talk Talk, ist in der Vorwoche tragischerweise verstorben.
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Große Freiheit, der erste Teil einer geplanten Trilogie, schildert den Lebensweg des Hamburger Zuhälters, Kiffers und Lebenskünstlers Wolli Köhler, des "ersten marxistischen Puffbosses der Welt". Ausgangspunkte dafür waren Interviews mit Köhler, die Hubert Fichte 1978 in seinem Buch Wolli Indienfahrer veröffentlichte, sowie eine späte Freundschaft Schamonis mit dem 2017 mit Mitte 80 gestorbenen Luden.

Wolli Köhler verkehrte in seinen Puffs auf der Reeperbahn nicht nur damals in den Swinging Sixties mit Künstlern, Intellektuellen und anderen Spinnern, um bei geistreichem Gedankenaustausch auch den weltlichen Freuden nachzugehen. Er wollte als Leser von Marx, Sartre oder Camus seine Bordelle zumindest theoretisch auf Kolchose umstellen – was in der Hamburger Rotlichtszene gar nicht so gut ankam.

Oasen der Nacht

Mit Große Freiheit nimmt sich nun Rocko Schamoni einer gegen sämtliche bürgerliche Moralvorstellungen ausgerichteten Existenz an, wie sie immer schon nur kurzfristig in den Oasen der Nacht blühen kann. Verfallsdatum inbegriffen. Auch die Reeperbahn selbst ist 2019 im Wesentlichen die Aufrechterhaltung einer längst nicht mehr zu haltenden Behauptung.

Auf Distanz zum Objekt seines Romans geht Schamoni dabei gar nicht. Im schnoddrigen, scheinbar coolen Tonfall, der sich oft als reine Blauäugigkeit entpuppt, entsteht so das rührend-naiv vorgetragene Porträt einer geschlossenen Gesellschaft, in der Charaktere wie "Schweine-Hans" oder "Ochsen-Harry" im Mittelpunkt stehen. Und Frauen irgendwie auch vorkommen. Mit irgendwem muss man schließlich Sex haben und Geld verdienen. (Christian Schachinger, 7.3.2019)