Jürgen und Marlies bemerken täglich, wie sehr sich ihre 14-jährige Tochter Melanie von ihnen distanziert. Das Mädchen gerät seit einiger Zeit viel schneller in Wut und Rage. Bei jeder noch so kleinen Kleinigkeit explodiert die Schülerin, wirft dann ihrer Mutter Beschimpfungen und Beleidigungen an den Kopf.

Jasmin (14) und ihr jüngerer Bruder Oliver (zwölf) geraten fast täglich aneinander. Sie beschimpfen sich, schreien und drohen. Manchmal, wenn Jasmin besonders wütend ist, dann schlägt sie auch auf ihren Bruder ein oder wirft jeden Gegenstand, den sie finden kann, nach ihm. Jedes Mal, wenn Helena, die Mutter der beiden für Ruhe sorgen möchte, bekommt auch sie von ihrer Tochter etwas ab. Seit Wochen hat Helena dabei ein wirklich ungutes Gefühl. Sie befürchtet, dass irgendwann ihre Tochter auch ihr gegenüber handgreiflich werden könnte.

Seit sich der 15-jährige Georg dazu entschlossen hat, mit der Schule aufzuhören, hat sich sein Freundeskreis verändert. War der Junge früher fröhlich und eigentlich immer gut gelaunt, ist er jetzt nur noch aggressiv und wütend, schreit herum, knallt mit den Türen und hält sich an keinerlei Regeln mehr. Im Zorn erhob er sogar die Hand gegen seine Mama. Auch wenn er sich danach ehrlich und aufrichtig bei seiner Mutter entschuldigt hat, kann Alexandra ihrem Sohn nicht mehr vertrauen. Es scheint, dass, egal was die Alleinerzieherin ausprobiert, sich Georg einfach an nichts mehr halten will.

Gibt es Gewalt gegen Eltern wirklich?

Immer wieder wird in Zeitungen und Nachrichten darüber berichtet, dass Eltern ihren Kindern gegenüber gewalttätig sind. In diesen Artikeln ist davon zu lesen, wie viel Brutalität Kinder ausgesetzt sind, die Erwachsene gegen sie verüben. Gewalt gegen Eltern ist in unserer Gesellschaft eine nicht beachtete beziehungsweise nicht aktiv wahrgenommene Form familiärer Gewalt, die in fast allen Fällen im Verborgenen geschieht.

Selten wird von Gewalt berichtet, die Kinder und Jugendliche ihren Eltern gegenüber an den Tag legen. Der Fachbegriff dafür wird "Parent battering" genannt. Wie viele Familien davon genau betroffen sind, kann niemand sagen. Aus Scham und Verzweiflung sprechen die wenigsten Eltern darüber. So geraten die Erziehenden immer mehr in die Isolation. Das Schweigen zu brechen fällt den meisten von ihnen unglaublich schwer.

So vermuten Experten, dass zwischen zehn und 16 Prozent aller Eltern ein oder mehrmals von psychischer und/oder physischer Gewalt von Jugendlichen ausgesetzt sind. Die Dunkelziffer ist, Schätzungen zufolge, bedeutend höher. Dazu tragen neben Scham und Schuld auch Unwissenheit, Vorurteile und ein fehlendes Bewusstsein bei und der Umstand, dass Gewalt gegen Eltern als pubertäres Trotzverhalten belächelt wird.

Von Treten und Beschimpfungen bis hin zu extremer physischer und psychischer Gewalt kann das Verhalten von Kindern und Jugendlichen gegenüber ihren Eltern reichen.
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Psychische und physische Gewalt

Die Konstruktion von der liebevollen Eltern-Kind-Beziehung ist so mitunter eine falsch verstandene, wenn versucht wird, Gewalt von Jugendlichen um jeden Preis auszuhalten. Die psychische Gewalt zeigt sich dahingehend, dass Drohungen und Erpressungen gegenüber den Eltern ausgesprochen werden und somit Angst erzeugt wird. Die Eltern werden beschimpft und beleidigt, eingesperrt und gequält. Es wird absichtlich gelogen und versucht, die Eltern bewusst zu verunsichern und aus der Fassung zu bringen. Mitunter wird gestohlen und es werden unrealistische Forderungen gestellt. Auch werden die Eltern in ihrer Fürsorge abgewertet und diffamiert.

Oftmals lässt sich finanzielle Gewalt bemerken, indem Jugendliche bewusst ihre Eltern dazu bringen, über die Verhältnisse Geld für sie auszugeben, indem sie Sachen einfordern, die die finanziellen Möglichkeiten übersteigen.

Physische Gewalt von Jugendlichen gegenüber den engsten Bezugspersonen umfasst prügeln, schlagen, hauen, treten, zwicken, an den Haaren reißen, würgen, das Verwenden von Messern und Alltagsdingen, die dadurch zu gefährlichen Gegenständen werden, das Beschädigen der Wohnungseinrichtung oder das Quälen von Haustieren.

Die Angst, versagt zu haben

Aus Angst davor, in der Erziehung versagt zu haben, trauen sich viele Eltern nicht, Hilfe zu suchen. Die Scham darüber, dass die Tochter oder der Sohn in dem vertrauten und sicheren Ort der eigenen vier Wände gegen die Eltern gewalttätig ist, ist schier unfassbar für die meisten Eltern. Nicht zuletzt ist die Angst, dass einem das Kind "weggenommen" wird, so groß, dass sich die meisten Erwachsenen dafür entscheiden, nicht darüber zu sprechen und die Gewalt mit unwirksamen Maßnahmen zu beenden suchen.

Da wird von einer Phase gesprochen, die hoffentlich nur kurz andauern möge. Davon, dass die Jugendlichen in ihrem pubertierenden Verhalten hoffentlich bald wieder zur Vernunft kommen.

In allen sozialen Schichten

Gewalt von Kindern an ihren Eltern ist kein Phänomen einer sozialen Schicht. So passiert laut internationalen Studien Gewalt von Jugendlichen an Eltern in allen sozialen Gesellschaftsschichten.

Vereinzelte Studien aber sprechen von möglichen Gründen, die dazu führen können, dass es jugendliche Gewalt gegen elterliche Erziehung gibt. So wurde festgestellt, dass bereits selbst erlebte Gewalterfahrungen zu gewalttätigem Verhalten führen können. Begünstigt werden kann dies auch durch das Erleben von Überbehütung oder fehlendem Interesse am Kind. Das Fehlen von Grenzen jeglicher Art gegenüber dem Kind kann ebenso gewalttätiges Verhalten in der Pubertät zur Ursache haben.

Mitunter sind eine geringe Frustrationstoleranz, fehlende Impulskontrolle und fehlende Strategien für den Umgang mit enttäuschenden Situationen dafür mitverantwortlich, weshalb schnell zu Gewalt als einziges Mittel gegriffen wird. So hat man auch beobachtet, dass zunehmende emotionale Vereinsamung zu erhöhter Gewaltbereitschaft seitens der Jugendlichen führen kann. Auch die Rolle der Peer-Group ist nicht zu leugnen.

Es gibt viele Punkte, die mehr oder minder dafür verantwortlich sind, weshalb Jugendliche Gewalt gegenüber den Eltern an den Tag legen. Klar ist aber bei aller Tabuisierung des Themas, dass Kinder und Jugendliche oft ihren Vorbildern nacheifern und diese Identifizierung mit ihnen sie dazu verleitet, so sein zu wollen wie diese.

Wenn es also Erziehenden nicht gelingt, sich ihrer Vorbildwirkung täglich bewusst zu sein, kann es passieren, dass Jugendliche in ihrer Grenzenlosigkeit und dem Gefühl der Unangreifbarkeit dazu neigen, ihre Eltern anzugreifen und gegen diese Gewalt auszuüben, um sich in ihrer Hilflosigkeit und Machtlosigkeit mächtiger fühlen zu können. Demnach sind es neben elterlicher Bindung, Liebe und Fürsorge, Grenzen und Klarheit, die Kinder und Jugendliche für ihre Entwicklung benötigen.

Ihre Erfahrungen?

Was glauben Sie, wie die Gewaltbereitschaft der Kinder und Jugendlichen entsteht? Wo beginnt aus Ihrer Sicht Gewalt gegen Eltern? Wo ist für Sie die Grenze zwischen auflehnendem Verhalten in der Pubertät und Gewalt? Posten Sie Ihre Erfahrungen, Fragen und Ideen im Forum! (Andrea Leidlmayr, Christine Strableg, 8.3.2019)