Franz Welser-Möst über Gustav Mahler: "Er war als Dirigent ein Despot."

Foto: Julia Wesely

Wien – Das Onlinemagazin Van zitierte unlängst – anonym – mehrere ehemals in Berlin tätige Musiker, die dem Dirigenten Daniel Barenboim im Umgang launisches und aggressives Verhalten vorwerfen. Später erhoben in der Welt und bei BR-Klassik andere Ex-Mitarbeiter – nicht mehr anonym – ähnliche Vorwürfe. Nun wird debattiert. An der Staatsoper Unter den Linden wird indes versucht, die Angelegenheit durch Gespräche mit dem Orchester und Generalmusikdirektor Barenboim, der die Anschuldigungen zurückweist, zu klären.

Franz Welser-Möst, Chefdirigent in Cleveland, plädiert für eine Kultur des Respekts und meint zu Barenboim: "Ich habe nie Proben von ihm erlebt, ich habe Infos nur aus zweiter Hand. Aber soweit ich ihn kenne: Er ist temperamentvoll. Und nachdem er über einen großen Intellekt verfügt, mit dem nicht jeder gleich mithalten kann, hat er vielleicht auch einen Hang zum Zynismus." Als Chefdirigent in Cleveland bekennt sich Welser-Möst aber zum Leistungsprinzip: "Ich bereite mich gut vor. Ich setze mich nach Proben hin, um nachzuarbeiten und die nächste Probe vorzubereiten. Ich möchte, dass möglichst viel von dem, was im Werk steckt, umgesetzt wird."

STANDARD: Wer ambitioniert ist, könnte auch zu unguten Mitteln greifen. Sie auch?

Welser-Möst: Die Machtfülle bringt natürlich auch Gefahren mit sich, über Grenzen zu gehen. Das Motto "Ich schaffe an, und ihr habt den Mund zu halten" geht Gott sei Dank nicht mehr. Aber hier eine Geschichte zu einer Produktion des Tannhäuser. Es ist Bühnenorchesterprobe, Anfang zweiter Akt: Alles war hektisch, stressig, vieles auf der Bühne funktionierte nicht. Eine Sopranistin fängt an, ich unterbreche und sage: "Wissen Sie, das klingt mir alles etwas zu brav, zu sehr nach Hausfrau." In der Pause kam sie zu mir und sagte, dass sie das nicht richtig fände, worauf ich mich entschuldigt habe. Sie meinte jedoch, ich hätte leicht reden, ich hätte das vor versammelter Mannschaft zu ihr gesagt, und jetzt spreche ich es nur unter vier Augen aus. Bei der nächsten Bühnenorchesterprobe habe ich unterbrochen und mich bei der Dame vor versammelter Mannschaft entschuldigt. Jeder macht Fehler. Aber so kann man eine Sache ausräumen.

STANDARD: Das klingt wie eine romantische Ausnahme.

Welser-Möst: Ja, Dirigenten entschuldigen sich nicht gern.

STANDARD: Und Sie machen gerne Druck?

Welser-Möst: Ich würde es anders sagen: Ein Dirigent muss fordern. Ich erinnere mich, dass ich, als ich an die Wiener Staatsoper kam, sehr vorsichtig war. Ein Musiker hat zu mir gesagt: "Fordern, fordern, fordern!", und er hatte recht. Bis heute ist mir kein Musiker begegnet, der Teil einer schlechten Aufführung sein will. Ein Dirigent ist wie der Trainer einer Fußballmannschaft, der auch nicht sagen kann: "Ihr seid so liebe Burschen, spielts halt ein wenig ..." Er muss auch an die Grenzen gehen.

STANDARD: Und wenn das einer nicht schafft, pickt er sich ihn heraus?

Welser-Möst: Ihn vor allen vorzuführen, das tut man nicht. Wenn einer etwas nicht schafft, rede ich unter vier Augen mit ihm.

STANDARD: Gewisse Vorbilder, was den Umgang betrifft?

Welser-Möst: Herbert von Karajan war ein toller Psychologe, er konnte mit einem Satz Situationen lösen, ich habe ihn nicht als distanziertes Monument erlebt. Eine Musikergeschichte: Wir sind in Salzburg beim Rosenkavalier in der ersten Szene, der Musiker spielt seinen ersten Dienst. Da sind viele Taktwechsel, und Karajan vertut sich. Das Orchester spielt zwar seelenruhig weiter, da es das Stück eh auswendig kennt. Dieser Musiker aber blickt Karajan entsetzt an, der sich an ihn wendet: "Keine Sorge, ich finde schon wieder hinein!" Er hat damit humorvoll gestanden, dass es sein Fehler war. Ich denke, das hatte Größe.

STANDARD: George Szell, einer Ihrer Vorgänger in Cleveland, war eher diktatorisch?

Welser-Möst: Na, was heißt! Es gab den Spruch: Wenn Szell in die Halle kam, sind sogar die Säulen gerade gestanden! Ich weiß es noch von einem Musiker, der noch unter ihm gespielt hat: Szell hat ihn ins Büro bestellt und gesagt: "Hier haben Sie die Adresse meines Optikers, gehen Sie zu ihm, Sie brauchen neue Brillen." Szell hat in das Alltagsleben der Leute hineinregiert, wir leben Gott sei Dank im 21. Jahrhundert. Es ist heute wichtig, sich zu fragen, ob wir als Orchester relevant sind für die Gesellschaft oder ob wir Saurier sind, die bekanntlich ausstarben. Zur Relevanz gehört dann aber auch das Bewusstsein, wie ich mich in einer Gesellschaft benehme.

STANDARD: Wie war der große komponierende Humanist Gustav Mahler als Dirigent, dessen Achte Sie im Mai umsetzen?

Welser-Möst: Er war als Dirigent sicher ein Despot. Als es darum ging, dass Richard Strauss Kodirektor an der Staatsoper werden sollte, setzten die Philharmoniker alles daran, ihn zu verhindern. Sie hatten Angst, dass es ihnen so geht wie unter Mahler: Der ist weg, und der ist weg und der auch ... Ich glaube, dass Mahler besessen eine künstlerische Vorstellung verwirklichen wollte – egal was es kostete.

STANDARD: Arturo Toscanini konnte das Haus durch Toben zum Wackeln bringen. Es gibt schöne Aufnahmen davon.

Welser-Möst: Er hat ja die Philharmoniker beim ersten Zusammentreffen als "Banda" beschimpft. Es gab einen Riesenaufstand: "Wir sind ja nicht irgendeine Dorfmusikkapelle", hieß es. Es gibt diese Aufnahmen aus New York, wo er einen Kontrabassisten beschimpft, er würde auf seinen Ohren stehen. Ich habe noch Sergiu Celibidache als Student bei Proben erlebt – das konnte heftig werden. Unvergesslich, wie er sich bei der ersten Probe zur vierten Bruckner auf seinen hohen Stuhl setzte, langsam die Hand hob und, bevor er sie runterfuhr, Richtung zweite Geigen schrie: "Zu laut!" Das war reinster Psychoterror!

STANDARD: Sie erlebten als Dirigent Unangenehmes mit den Symphonikern.

Welser-Möst: Ich bin nach der zweiten Probe gegangen, das Konzert fand nie statt. Ich komme rein und höre: "Was hamma denn da heut?" Bei der zweiten Probe, als es gewackelt hat, sagt einer nach nur einem Takt: "Ist ja net zusammen, hern S' des net?!" Als dann – bei Beethovens Leonore eins – wiederum einer sagte: "Müss ma des wirklich spielen?", hab ich die Partitur zugeschlagen und gesagt: "Nein, nicht mit mir!" Sie sind mir nachgelaufen, meinten, es würde meiner Karriere schaden. Ich sagte: "Bleibe ich, schadet es meiner Gesundheit." Es ist aber lange her, nur noch eine Anekdote.

STANDARD: Revanchegefühle?

Welser-Möst: Natürlich nicht. Aber es kam schon ein Gefühl der Genugtuung, dass dieser Karrieremordversuch nicht gelang. (Ljubiša Tošić, 9.3.2019)