Ihrem Namen zum Trotz ist die Gartengrasmücke ein Singvogel. Die Erkenntnisse darüber, wie die Vögel in kürzester Zeit Körperfett auf- und wieder abbauen, sind auch für den Menschen interessant.

Foto: Getty Images / iStock / Andrew Howe

Der Vogelzug ist ein Phänomen, das die Wissenschaft seit langem beschäftigt: Im Extremfall legen die Tiere zweimal im Jahr tausende Kilometer zurück, um in ihre Brut- bzw. Überwinterungsgebiete zu gelangen.

Zwar fressen sie sich vor solch langen Wanderungen beachtliche Fettdepots an, dennoch verbringen sie rund 80 Prozent des Zuges auf Rastplätzen auf dem Weg, wo sie sich von den Strapazen erholen und ihre Energiereserven in Form von Nahrung wieder auffüllen können. Bisher ungeklärt war, wie sie zu der Entscheidung kommen, dass sie bereit für den Weiterflug sind.

Neben Außenfaktoren, wie dem Wetter, entscheidet vor allem die Größe der Fettspeicher der Vögel darüber, wie lange sie an den Rastplätzen verweilen und wie rasch der Zug allgemein verläuft. Wie dieser körperliche Zustand ans Gehirn übermittelt wird, war jedoch die längste Zeit unbekannt.

Als mögliche Übermittler wurden Hormone untersucht, von denen bekannt war, dass sie bei der Steuerung der Nahrungsaufnahme und der Fettverdauung von Säugern eine Rolle spielen, darunter das Hormon Ghrelin.

Wie sich herausstellte, ist Ghrelin auch in Vögeln aktiv, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Während Säugetiere, denen das Hormon injiziert wird, in der Folge mehr fressen und mehr Fett speichern, zeigen Hühner genau die gegenteilige Reaktion. Hühner sind allerdings keine Zugvögel und können daher auch keinen Aufschluss über die Wirkung von Ghrelin auf das entsprechende Verhalten geben.

Leonida Fusani vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Veterinärmedizinischen Universität Wien und das Department für Kognitionsbiologie der Universität Wien und seine Mitarbeiter untersuchten deshalb das Rastverhalten von freilebenden Gartengrasmücken.

Eine Nacht auf Ponza

Ihrem Namen zum Trotz ist die Gartengrasmücke (Sylvia borin) ein Singvogel, der in Mitteleuropa so gut wie flächendeckend brütet. Den Winter hingegen verbringen die etwa spatzengroßen, unauffällig braunen Vögel in Zentralafrika, sie fliegen also jeden Frühling und Herbst eine Strecke von rund 5000 bis 6000 Kilometern.

Einen der Stopps, die sie auf diesem Weg einlegen, verbringen sie auf der kleinen Insel Ponza, die etwa 50 Kilometer vor der italienischen Küste auf halber Strecke zwischen Rom und Neapel liegt. Dort hat Fusanis Forschungsgruppe innerhalb von drei Jahren insgesamt knapp 11.500 Gartengrasmücken gefangen und auf ihren physiologischen Zustand untersucht.

Wenn die Vögel auf dem Rückweg von Afrika auf Ponza ankommen, haben sie gerade das Mittelmeer überquert; das bedeutet rund 500 Kilometer Flug am Stück. Diejenigen, die trotzdem noch Energiereserven haben, bleiben oft nur einen Tag, aber die, die all ihre Fettreserven aufgebraucht haben, verbringen häufig mehrere Tage auf der Insel und fressen sich währenddessen voll.

Um sie zu untersuchen, bediente sich Fusanis Gruppe eines speziell für Zugvögel entwickelten Prozederes: Beim "Overnight Approach" werden die Vögel an ihren Rastplätzen mit Japannetzen gefangen und für eine Nacht in speziellen Volieren gehalten, bevor sie wieder freigelassen werden.

Gleich nach dem Fang wurde den Grasmücken eine kleine Menge Blut abgenommen und unter anderem auf seinen Ghrelin-Gehalt untersucht. Dabei zeigte sich, dass Tiere mit mehr Körperfett tatsächlich mehr Ghrelin in ihrem Blutkreislauf hatten als dünnere Artgenossen.

Ghrelin, so die Theorie, beeinflusst aber nicht nur das Hungergefühl der Vögel, sondern auch ihre sogenannte Zugunruhe: Das ist ein spezielles Verhalten, das Zugvögel an den Tag legen, wenn es für sie Zeit wird, ihre Reise zu beginnen. "Sie flattern herum und machen kleine Sprünge", sagt Fusani. In Käfigen gehaltene Vögel zeigen für gewöhnlich so lange Zugunruhe, wie sie in freier Natur für den Zug brauchen würden.

Folgen einer Hormondosis

Um die Wirkung von Ghrelin auf Gartengrasmücken zu untersuchen, wurden die Käfige, in denen sie eine Nacht verbrachten, mit Bewegungssensoren und -rekordern ausgestattet. Einem Teil der Gartengrasmücken spritzten die Forscher eine Dosis Ghrelin, ehe sie ihnen eine ordentliche Portion Futter vorsetzten und sie wieder freiließen. Dabei zeichneten sie die Nahrungsaufnahme und die Bewegungen der Tiere auf.

Wie sich herausstellte, fraßen Vögel mit künstlich erhöhtem Ghrelin-Gehalt im Blut weniger und zeigten mehr Zugunruhe, auch wenn sie vom Körperfett her eigentlich das Gegenteil hätten tun sollen. "Sie benahmen sich so, als wären sie in viel besserer Form, als sie es eigentlich waren", fasst Fusani zusammen, "Ghrelin spielt also tatsächlich eine Vermittlerrolle zwischen Körper und Gehirn."

Allerdings verhalten sich nicht alle Zugvogelarten völlig gleich, auch wenn ihr physiologischer Zustand ähnlich ist. In einem kürzlich angelaufenen FWF-Projekt wollen Fusani und seine Mitarbeiter daher untersuchen, inwieweit die individuelle genetische Ausstattung die Entscheidungen bedingt, die die Vögel während ihres Zuges treffen müssen.

Außerdem sollen in Zusammenarbeit mit Chris Guglielmo von der Western University of London, Ontario, Grasmücken in einem Windkanal an der kanadischen Universität simulierte Langstreckenflüge und Zwischenstopps absolvieren. Sara Lupi aus Fusanis Gruppe will dabei untersuchen, wie sich der Ghrelin-Spiegel während dieser Etappen verändert.

Die Erkenntnisse aus der Erforschung jener Stoffwechselabläufe, die es Zugvögeln erlauben, ihr Körperfett innerhalb kürzester Zeit auf- und wieder abzubauen, könnten durchaus auch für den Menschen interessant sein, wie Fusani erklärt: "Wir könnten Hinweise darauf gewinnen, wie etwa Adipositas oder andere Stoffwechselkrankheiten entstehen." (Susanne Strnadl, 17.3.2019)