Mikhail Baryshnikov ist ein Multitalent. Der heute 71-Jährige war ein begnadeter Ballerino aus bester russischer Schule, als er sich 1974 aus der Sowjetunion absetzte und in den USA politisches Asyl erhielt.

Weil er sich auch für modernen Tanz interessierte, wurde Baryshnikov Ende der Siebzigerjahre Principal Dancer beim New York City Ballet und lenkte bald die Geschicke des renommierten American Ballet Theatre. In den Neunzigern tat er sich mit Kollegen Mark Morris zusammen und führte mit ihm eine Company namens White Oak Dance Project zu internationalem Ruhm. Seit 2002 steht der risikofreudige Charismatiker seinem eigenen Baryshnikov Arts Center in Manhattan vor.

Foto: Janis Deinats

Baryshnikovs Breitenwirkung kam nicht zuletzt auch durch Film und Fernsehen: Sein Nußknacker war ein TV-Dauerbrenner, und nach einer Oscar-Nominierung für seine Rolle in The Turning Point (1977) wurde er für weitere Filme engagiert. 1985 spielte er etwa an der Seite von Isabella Rossellini in White Nights, später trat er in Staffel sechs von Sex and the City auf.

Im Alter von 51 startete Baryshnikov eine Nebenkarriere als Theaterschauspieler. Diese bringt ihn jetzt nach Wien. Von Freitag bis Sonntag gastiert er mit dem Stück Brodsky/Baryshnikov unter der Regie von Alvis Hermanis im Museumsquartier.

STANDARD: Wer oder was hat Sie zum Theaterspielen gebracht?

Baryshnikov: Mein Freund Roman Polanski. Er hat mich gewissermaßen auf die Bühne gestoßen. Den ersten Theaterauftritt hatte ich 1989 in New York als Gregor Samsa in Franz Kafkas Verwandlung.

STANDARD: Seitdem sind Sie unter anderem in der Regie von Robert Wilson in "Letter to a Man" aufgetreten.

Baryshnikov: Mit Bob hatte ich zwei Shows. The Old Woman von Daniil Charms, 2013 zusammen mit Willem Dafoe, und zwei Jahre später Letter to a Man.

STANDARD: Jetzt hat Alvis Hermanis für Ihre Performance sehr frühe und sehr späte Gedichte von Nobelpreisträger Joseph Brodsky ausgewählt. Wie beeinflusst Sie Ihre Erfahrung als Tänzer im Stück?

Baryshnikov: Die Gedichte rufen in mir bestimmte Körperreaktionen hervor. Hermanis wollte, dass ich im Sitzen rezitiere. Er sagte, dass ich beim Stehen in Gefahr gerate, zu übertreiben.

KunstVia Wien

STANDARD: Brodsky hat einmal geschrieben: "How splendid late at night, Old Russia worlds apart, / to watch Baryshnikov, his talent still as forceful." Was bedeutet das?

Baryshnikov: Das war in den 1970ern! Halb im Scherz wohl, es ging eher um unsere Freundschaft als um sein Verständnis vom klassischen Tanz. Man könnte auch eine moderne Botschaft herauslesen: Kunst ist letztendlich global.

STANDARD: War der Übertritt in den Westen für Brodsky schwerer als für Sie?

Baryshnikov: Natürlich, er hat die UdSSR ja nicht freiwillig verlassen, er wurde hinausgeworfen! Und ich bin aus eigenen Stücken gegangen.

STANDARD: Hermanis und Sie sind beide in der lettischen Hauptstadt Riga geboren. Besuchen Sie Lettland regelmäßig?

Baryshnikov: Mein Vater war dort Militäroffizier einer Besatzungsmacht. Ich bin mit 16 nach St. Petersburg gezogen, aber meine Mutter ist in Lettland begraben. Nach vielen Jahren habe ich begonnen, ihr Grab zu besuchen, dann bin ich immer öfter in Lettland aufgetreten. Für mich ist das nicht nur ein geografischer Ort. Aber mein Land sind die Vereinigten Staaten. New York hat mir eine Heimat gegeben und alles, was Amerika einem Immigranten geben kann. Jetzt ist das leider eine andere Geschichte, aber ich hatte damals großes Glück.

STANDARD: In Russland haben Sie nur zehn Jahre gelebt?

Baryshnikov: Ich bin ein Bürger der freien Welt, wenn man es so ausdrücken möchte. Im Westen bin ich Amerikaner und im Osten Lette. Meine Kultur und meine Sprache sind aber Russisch, also Russisch nicht im Sinn von innerhalb irgendwelcher Grenzen. Russland ist überall, kulturell und – unglücklicherweise – politisch. Aber ich repräsentiere dieses Land überhaupt nicht.

STANDARD: Sie haben Russland seit 1974 nicht mehr besucht. Warum eigentlich?

Baryshnikov: Ich hatte nie das Bedürfnis. Und ich befürworte diese Gesellschaft politisch nicht, weil ihr Transparenz und demokratische Prinzipien fehlen. Ich will Putin nicht unterstützen.

STANDARD: Hatten Sie auch 1989 den Eindruck, es würde sich nichts ändern?

Baryshnikov: Die Leute haben damals begonnen, durchzuatmen. Sie hatten Hoffnung. Aber das war ein verfrühtes Gefühl. Es wurde eigentlich nie besser, und jetzt ist es in gewissen Aspekten sogar schlimmer als zu Breschnews Zeiten. Ich verfolge aus politischem Interesse, was passiert – ökonomisch, politisch, kulturell, die Menschenrechtssituation. Das beobachte ich, aber mehr nicht. Ich bin kein Dissident. Ich mache meinen Mund auf, wenn ich wirklich muss, aber sonst ... Ich bin zu alt für so etwas.

STANDARD: Was an der russischen Kultur ist Ihnen wichtig?

Baryshnikov: Russische Geschichte und russische Kultur zusammen schließen als historisches Erbe die weltgrößten Komponisten, Schauspieler, Tänzer oder Regisseure ein. Ein überaus komplexes Gepäck, mit dem man sehr sorgfältig umgehen muss. Das darf nicht politisiert und kontrolliert werden. Man muss es bewahren, denn es hilft, zu verstehen, was die Freiheit des Menschen ist, die Freiheit der Rede und des Ausdrucks. (Interview: Helmut Ploebst, 14. 3. 2019)