Das letzte Mal, dass ich die Hosen so voll hatte, war vor zehn Jahren. Am Tag meiner Hochzeit. Auf dem Weg zur Trauung. Keine Ahnung, was meine Frau damals geritten hat, dass sie in dem entscheidenden Moment Ja sagte. Am Ende ging eh alles gut aus. Zumindest für mich. Aber vielleicht war es derselbe Anfall, der mich geritten hat, als ich zusagte, die BMW S 1000 RR auf dem Rundkurs in Estoril zu fahren.

Da steht sie, die neue Doppel-R. Zwar nicht in Estoril, aber trotzdem an einer Rennstrecke, weil dort ist sie daheim.
Foto: BMW Motorrad

Man sagt übrigens Doppel-R und nicht R-R. Das dauert zwar länger, aber das macht nichts, weil man sich die Zeit eh beim Fahren locker wieder reinholt. Wir reden bei der Doppel-R nämlich vom vielleicht besten Supersport-Motorrad, das man derzeit von der Stange kaufen kann. Das rauszufinden wäre eigentlich meine Aufgabe gewesen. Aber ganz ehrlich: Dazu fehlt es mir an Vergleichen. Außerdem bin ich inzwischen viel zu alt, um nach der Start-Ziel-Geraden in Estoril mit über 300 km/h auf der Uhr die erste Rechtskurve anzubremsen. Da sag ich lieber zwei-, dreimal R-R, sollte es am Ende des Tages mit der Zeit auf einmal doch knapp werden.

Die erste S 1000 RR stellte BMW 2008 vor, die Produktion begann 2009.
Foto: BMW Motorrad

Einen Vergleich hab ich aber. Nämlich den zur Vorgänger der Doppel-R. BMW stieg erst recht spät in den Markt der 1000-Supersportler ein. 2008 zeigten sie das Motorrad erstmals auf der Intermot in Köln. Damals war nicht nur der Markt von den Japanern mehr als gut gesättigt. Quasi zeitgleich zeichnet sich bereits der kommende Retro-Boom ab. Alte Herren mit langen Bärten werden sich auf einmal Motorräder kaufen, die so alt aussahen wie sie selbst. Die Jungen werden lieber zu großen Telefönern mit riesigen Bildschirmen statt schneller Reiben greifen. Die Damen beeindruckt man seit damals auf Internetplattformen wie Tinder, statt mit zerschunden Haxen und den Narben vom letzten Schlüsselbeinbruch. Man durfte sich also durchaus die Frage erlauben, warum BMW gerade da, gerade so ein Motorrad brachte.

Die asymmetrischen Scheinwerfer waren dem Bemühen um ein geringes Gewicht geschuldet.
Foto: BMW Motorrad

In erster Linie ging es wohl darum, die Marke "BMW Motorrad" mit etwas Sportlichkeit aufzufrischen. Und natürlich wollte man die Japaner ärgern. Mitten rein ins gemachte Nest des Marktes wollte man ihnen dieses Kuckucksei schieben. Und das gelang. Die erste Doppel-R war eine echte Sensation. Sie war gewaltig stark, sie war schnell, und sie war radikal. Erinnern wir uns nur an die asymmetrischen Scheinwerfer, die allein der Gewichtsreduktion geschuldet waren. Wurscht, wie das Greibel dann aussah. Alles wurde auf Performance getrimmt. Und die Rechnung ging auf.

Jungbrunnen Supersportler

Nicht nur, dass die Konkurrenz sichtlich nervös wurde, verkaufte BMW bis heute dann auch noch mehr als 80.000 Stück von der Doppel-R. Ganz tot war der Markt also wohl doch nicht. Und mit der schnellen Sportlerin im Schauraum und den neuen Lederkombis in der Gwand-Eck'n polierte BMW tatsächlich sein Image gehörig auf. Die Piloten, die mit der Doppel-R schnell waren, wurden in ihren Kreisen regelrecht zu Helden. Denn so kompromisslos wie das Motorrad gebaut war, bedurfte es einer strengen Hand, wenn man damit schnell sein wollte. Auf der Straße begann der friedfertigste Mann permanent zu fluchen, weil das Eisen für so eine läppische Aufgabe schlicht nicht gebaut war. Und Rundstrecken wie der Pannoniaring waren für die S 1000 RR wie der Wachau-Ring für einen Formel-1-Wagen.

Das asymmetrische G'schau ist jetzt weg. Die Doppel-R ist nun zweifellos fesch und spielt mit einem Design, das man sonst nur aus Italien kennt.
Foto: BMW Motorrad

Gut, es war eh nicht der Pann, nicht in der Wachau, wo BMW die neue Doppel-R präsentierte. In Estoril, Portugal, stellten sie die Sporteisen in die Boxengasse. Wie schon angedeutet, gehen sich auf der langen Geraden mehr als 300 km/h aus, auf der Gegengeraden wohl um die 280 km/h. Das nicht zuletzt, weil BMW die S 1000 RR leichter machte, stärker und schneller. Dass die BMW-Leut dies vor der ersten Ausfahrt im Minutentakt wiederholt haben, machte die Situation nicht angenehmer. Die RR hat nun mit 207 PS um 8 PS mehr als die Vorgängerin, ist mit 197 Kilogramm aber gleichzeitig um elf Kilogramm leichter. Mit dem M-Paket, das es erstmals gibt – mit Carbon dort und da, von der Blende am Tank bis hin zu den Rädern –, wiegt sie gar nur 193,5 Kilogramm. Und genau in dem Trimm steht die BMW in Estoril in der Boxengasse. Wer da keine vollen Hosen hat, ist sicher sehr unglücklich verheiratet. Da hilft es auch nicht, dass die Maschine jetzt ein symmetrisches G'schau hat.

Es ist selbst für den Laien ganz einfach zu verstehen: Die Scharfe ist die S 1000 RR mit dem M-Paket.
Foto: BMW Motorrad

Die Veränderungen, durch welche die neue Leistungsspitze bei weniger Gewicht möglich wurden, sind faszinierend. Außer beim Licht. Die LED-Technik ist leichter und erlaubt den Designern mehr Spielraum – das kennen wir ja schon von den Autos. Aber wie BMW von der Kurbelwelle noch ein paar Kilo runterreißt oder die Meisterleistung vollbringt, das leichteste Steuergerät für eine kombinierte ABS-Bremse zu bauen, zeigt, mit welchem Ehrgeiz man in diesem Segment die Spitze bilden will.

Zum Vergleich, die Shiftcam der neuen und die klassische Nockenwelle der Vorgänger-RR.
Foto: BMW Motorrad

Die Pleuel etwa werden bei Minusgraden gecrackt – und nicht aus zwei Teilen mit planen Stellen um die Kurbelwelle gelegt und geschraubt –, weil die gebrochene, unebene Verbindung viel besser ineinandergreift. Solche Details sind es, an denen gearbeitet wird.

Die Unterzugschwinge kennt man aus dem Rennsport. Sie hat weniger Gewicht, erlaubt eine bessere Positionierung des Dämpfers und bietet besseres Handling.
Foto: BMW Motorrad

Mit der gleichen Akribie hat man versucht, das Handling zu verbessern. Da setzt man jetzt auf einer Unterzugschwinge, und im digitalen Cockpit kann man elektronisch fast das komplette Setup des Motorrades verändern: Rebound-Dämpfer hinten anwählen, drei Klicks härter drehen, den Rest macht der Stellmotor. Wheelie-Control, ABS-Setup, Traktionskontrolle, alles kann man verändern – sogar ob und wie stark das Hinterrad beim Anbremsen abheben darf. Ganz, ganz arg. Vertrauensbildend ist das alles vor der ersten Runde am Ring aber nur bedingt. Du hast ja keine Ahnung, was du einstellen sollst, damit es für dich passt. "Greif das Setup gar nicht an", sagte der BMW-Techniker, als ich mich, leicht zitternd vor Angst, auf die Maschine hievte. Ich war so nervös, dass ich erst gegen Ende der Boxengasse eine der größte Veränderungen auf der S 1000 RR bemerkte.

Das digitale Cockpit erlaubt Einstellungen wie im Profirennsport.
Foto: BMW Motorrad

Die Sitzposition wurde nur ganz leicht verändert, der Unterschied ist aber enorm. Auf einmal sitzt man nicht mehr auf einer beeindruckendsten Supersport-1000er, sondern man man sitzt in ihr, wird eins mit dem Gerät. Jetzt ist das ganze Bockige weg. Vom Handling her ist eine 600er auch nicht einfacher zu fahren, ach was red ich, eine 125er schmeißt du nicht leichter ums Eck als diese 1000er. Nur der Motor ist trotzdem von einer anderen Welt. Himmelschimmel. Nicht nur, dass der auf der langen Geraden in Estoril ewig Zeit hat, sich die Seele aus dem Leib zu schreien, tauscht man sich ansatzlos mit ihm aus und beginnt selbst zu brüllen, wenn man gegen Ende der Geraden das Gas zumacht. Es sind Flüche, es sind Gebete. Es ist ein Wimmern, dass die Kurve bitt' schön noch ein bisserl wegbleiben möge, weil man mit einem derartigen Affenzahn auf das erste Eck zusticht. Aber es hilft alles nichts. Du musst in diese Bremse greifen.

Die Sitzposition ist nun deutlich besser geworden, man fühlt sich nicht mehr so über das Motorrad gestreckt.
Foto: BMW Motorrad

Ich weiß nicht, was beeindruckender, was schlimmer ist, das Beschleunigen oder das Bremsen. Beim Zug am Hebel werden Kräfte frei, dass du unweigerlich die Luft anhältst und hoffst, dass die Physik ebenso überrascht ist wie du und kurz Pause macht. Denn sonst fürchtest du, kannst dich unmöglich auf diesem Bock halten, und steigst nach vorne ab, um in Frieden auszukugeln. Aber in Wirklichkeit ist alles halb so wild. Spätestens am Kurveneingang weißt du, dass du es auf der Bremse wieder übertrieben hast. Und während das Knie sanft am Boden aufsetzt, rinnt ganz dünn eine kleine Träne aus dem Augenwinkel und verläuft sich in der Polsterung des Helmes. Nach ein paar Runden ist dir klar, an diese Performance gewöhnt man sich nicht an einem Tag.

208 PS und 193,5 Kilogramm. Wer da das Vorderrad am Asphalt halten will, drückt sich durch die Wheelie-Control oder pfeift seelenruhig auf die Fastenzeit.
Foto: BMW Motorrad

Auch wenn das Motorrad im Grunde einfach zu fahren ist und man damit gach einmal seine eigene Rundenzeit verbessern mag, ist klar, dass hier die eigenen Grenzen das Limit beschreiben. Der Grenzbereich der BMW befindet sich in einer ganz anderen Liga als der eigene. Natürlich kann das ein Ansporn sein. In Wahrheit ist es aber eine Lektion in Demut. Und während ich diese innerliche Schmach über mich ergehen lasse und in der Box zitternd vom Bock steige, fragt einer der BMW-Techniker: "Fertig, ja? Können wir jetzt die Slicks aufziehen, du wirst sehen, das ist dann gleich noch einmal einen andere Welt."

Die S 1000 RR ist aber schon auch ein Luder. Sie spielt sich nämlich immer noch, wenn du selbst schon lang im Grenzbereich bist.
Foto: BMW Motorrad

Er hatte recht. Es ist ein bisserl so wie damals bei der Hochzeit. Da erzählen dir die Freunde, die Eltern und der Standesbeamte, was auf dich zukommen wird. Du hast die Hosen voll, weil du nicht weißt, ob sie blöd genug ist, Ja zu sagen – du hältst sie sonst ja für wahnsinnig schlau –, und ob das alles zutrifft, wovor man dich warnt, worauf du dich freust, was du dir davon versprichst. Am End ist es aber so viel ärger, als du es dir mit deinen bescheidenen Mitteln vorgestellt hast. Ich kann nur sagen: ausprobieren. Ja, heiraten und die Doppel-R fahren. Aber nicht beides gleichzeitig. Sonst spritzt dir nicht nur das Adrenalin aus den Ohren. (Guido Gluschitsch, 14.3.2019)