Das 20. Jahrhundert war ein kurzes Jahrhundert, sagen manche Historiker, die es 1914/1918 beginnen und 1989/1991 schon wieder enden lassen. Davor sehen sie ein langes bürgerliches Zeitalter, das im Ersten Weltkrieg unterging, danach beginnt eine Gegenwart, deren Umrisse zurzeit immer bedrängendere Züge annehmen. Bei der Lektüre von Gabriela Adameșteanus Roman Verlorener Morgen könnte man noch einmal an diese Pointe vom kurzen 20. Jahrhundert denken.

Denn sie wird hier am Spezialfall Rumänien ziemlich eindrucksvoll bestätigt. Und sie wird bekräftigt: In diese gerade einmal zwei Generationen hat die Geschichte so viel gepackt, dass es eigentlich für einzelne Menschen kaum noch verkraftbar erscheint. Es ist eine besondere Pointe, dass Verlorener Morgen nun noch eine Generation gebraucht hat, bis er ins Deutsche übersetzt wurde.

Zum großen Rumänien-Schwerpunkt auf der Leipziger Buchmesse vor einem Jahr wurde Eva Ruth Wemme nicht rechtzeitig fertig, das Buch erschien dann im Herbst, nun ist es für den Übersetzerpreis nominiert – und das gibt noch einmal Gelegenheit, Verlorener Morgen als einen Jahrhundertroman zu würdigen.

Besondere Signatur

Im Erscheinungsjahr 1983 war allerdings vom Ende des Kommunismus noch nichts zu ahnen. Gabriela Adameșteanu schaffte es, auf dem Höhepunkt (oder auf den Tiefpunkt) des Ceaușescu-Regimes ein Buch durch die Zensur zu bringen, das für die zuständigen Beamten vielleicht einfach zu steil war.

Vielleicht ahnten sie aber auch, dass sie es mit etwas zu tun hatten, dem man sich nicht in den Weg stellt. Das 20. Jahrhundert hat ja auch eine besondere Signatur in der Geschichte des Romans: Es hat die Form des Totalromans hervorgebracht, also einige besonders ambitionierte Versuche, die Welt in ihrer Totalität in eine erzählerische Form zu bringen.

Verlorener Morgen hängt das Etikett einer rumänischen Recherche à la Proust an, man kann aber genauso gut oder vielleicht sogar eher an Joyce denken. In jedem Fall handelt es sich um eine historische Tiefenbohrung, die wiederum große Zeiträume auf wenige Szenen verdichtet.

Im Mittelpunkt steht letztlich eine Villa, in der zwei Frauen zusammenkommen: Vica Delca und Ivona. Die eine kommt von unten, die andere von oben. Vica ist eine geschundene Frau, sie kann sich kaum auf den Beinen halten auf ihren Wegen durch Bukarest. Ivona kommt aus einer großbürgerlichen Familie, davon hat die Geschichte aber wenig übriggelassen.

Zwischen den beiden Frauen gibt es eine Art Vertrag, der die beiden Familien und sozialen Schichten verbindet: Einmal im Monat bekommt Vica von Ivona 50 Lei, so hat das vor langer Zeit deren Tante eingeführt, Madam Ioaniu. Einzig wegen dieser Summe hat Frau Delca sich überhaupt auf den Weg gemacht, ein Weg, den Gabriela Adameșteanu nebenbei auch zu einem eindringlichen Stadtporträt nützt. Das Bukarest, das man etwa aus Mircea Cartarescus Orbitor-Trilogie kennt, bekommt hier eine weitere archäologische Schichtung.

Historische Tiefenbohrung

In einer herkömmlichen Form wäre Verlorener Morgen ein historisches Epos: Eine Villa mit Garten wird von einer Familie bewohnt, die Zeiten und Kriege und Lebenspartner und Kinder kommen und gehen, am Ende ist eine neue Generation da, und ein weiteres System.

Gabriela Adameșteanu aber geht anders vor, sie formt einen sprachlichen Kristall, in den man von verschiedenen Seiten hineinschauen kann, und jedes Mal bekommt man eine andere Perspektive. Im Mittelpunkt steht dabei, neben der Erzählgegenwart irgendwann in den späten 1970er-Jahren, der Haushalt der Familie Mironescu während des Ersten Weltkriegs.

Ivonas Mutter Margot ist die Schwägerin des Professors, in dessen Haus alles beginnt. Madame Delca wird später als Schneiderin eine Lehre in der Firma von Margot machen, bevor der Kommunismus diese Verhältnisse über den Haufen wirft – die persönlichen Beziehungen bleiben auf eine prekäre Weise bestehen.

In den Passagen über das Rumänien, das 1918 als unvermuteter Großstaat aus dem chaotischen Ersten Weltkrieg hervorging, betreibt Adameșteanu auch ein bisschen Nationalitätenkunde. Die Mironescus sind kein altes Geschlecht, sie sind Vertreter einer jungen Nation, die sich selbst gegenüber niemals den Verdacht "unzureichender Zivilisiertheit" abzulegen vermag. Da hilft auch das ganze Konversationsfranzösisch nichts, mit dem man sich ebendieser Zivilisiertheit dann doch wieder zu versichern sucht.

Frau Delca hingegen spricht ein raues Rumänisch, das alles in sich aufnimmt, was auf der Straße so zu hören ist – zum Beispiel wird die (griechische!) Großmama ("granmama") von den ungebärdigen Enkeln als Totmama ("gramamoartea") bezeichnet.

An Kleinigkeiten wie diesen kann man ermessen, wie anspruchsvoll die Aufgabe für die Übersetzerin Eva Ruth Wemme war. Sie hat sich innerhalb kurzer Zeit (im Vorjahr auch schon mit ihrem großen Caragiale-Band bei Guggolz) als herausragende Vermittlern der rumänischen Literatur etabliert. Und mit Verlorener Morgen liegt nun ein Werk endlich vor, mit dem ein ganzes Land und ein ganzes Jahrhundert in eine neue Perspektive gerückt wird. (Bert Rebhandl, ALBUM, 18.3.2019)