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Die Verantwortung der Menschen: James Baldwin spricht zu uns allen.

Foto: Picturedesk.com / Everett Collection

Das Seltsamste an Wiederentdeckungen ist, dass sich so wenige wundern, warum jemand überhaupt ins Abseits geraten ist. James Baldwin ist dank mehrerer Filme – zuletzt Barry Jenkins' sensibler Romanadaption Beale Street, die gerade im Kino läuft – und einiger Gegenwartsautoren wie Teju Cole wieder in aller Munde. Darüber muss man froh sein, und die Anstrengungen des DTV-Verlags, den US-Schriftsteller auch wieder auf Deutsch in Neuübersetzungen von Miriam Mandelkow aufzulegen, kann man nicht genug loben.

Nach zwei Romanen ist nun endlich einer seiner wichtigsten Essays, Nach der Flut das Feuer (The Fire Next Time), an der Reihe – ein Text, der wohl zu den klügsten und aufrichtigsten gehört, die jemals über das Dilemma des Rassenwahns, des "Negro problem" in den USA, geschrieben wurden. Wer ihn einmal gelesen hat und kein ganz schlechter Mensch ist, wird ihn nicht mehr vergessen. Kurzum, es ist ein Aufsatz, den man eigentlich nicht wiederentdecken sollte. Er müsste einfach immer zur Hand sein.

Der erste Teil des dreigliedrigen Buches ist als ein Brief verfasst, den Baldwin an seinen 15-jährigen, nach ihm benannten Neffen gerichtet hat (ursprünglich erschien er 1962 im Magazin The Progressive). Anlass war das hundertjährige Bestehen der Emanzipationsproklamation, die Abraham Lincoln 1863 durchgesetzt hatte. Schon dies zeigt: Es ist ein Brief an viele Adressaten. Zugleich intim und persönlich wie an alle gerichtet, die nicht mit einem Balken vor den Augen durch die Welt gehen.

Gegen das Modell "Integration"

Die zärtliche Insistenz, mit der er seinen Neffen daran erinnert, sich nicht mit dem Los zufriedenzugeben, dass ihm die Mehrheitsgesellschaft zugeteilt hat, verbindet Baldwin mit einer Kritik am Konzept der "Akzeptanz" und der "Integration" – Begriffe, die sich bekanntlich noch heute großer Beliebtheit erfreuen, wenn es um von oben verordnete Identitätspolitik geht.

"Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren. Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren. Das ist mein voller Ernst. Du musst sie akzeptieren, und zwar mit Liebe."

In dieser verblüffenden Umkehrung steckt viel von Baldwins gedanklicher Kraft. Mit dialektischem Scharfsinn dreht er die Ausgangslage um, sodass es nunmehr die gönnerhafte Position der "Weißen" ist, die verbesserungswürdig erscheint.

Ein weiterer wichtiger, in diesem Zusammenhang überraschender Begriff ist jener der Unschuld: "In der Unschuld", schreibt Baldwin, "liegt das Verbrechen." Es sind mithin unbewusste, nicht weiter reflektierte Manöver und eine Ignoranz gegenüber historischen Prozessen, mit denen Machtpositionen aufrechterhalten und reproduziert werden. Baldwins Standpunkt ist jedoch nicht dogmatisch, ganz im Gegenteil. Er will nicht verurteilen, sondern sucht den Weg der Vermittlung.

Religion und Drogen

Wie wenig Baldwins Worte von ihrer Wirkkraft verloren haben, zeigt sich auch daran, dass Ta-Nehisi Coates mit seinem vielgerühmten Essay Zwischen mir und der Welt noch 2015 direkt darauf repliziert hat. Coates richtet seinen Brief an seinen 15-jährigen Sohn Samori, der schon mit anderen Zukunftsoptionen als der Neffe seines Vorbilds aufwachsen konnte.

In Nach der Flut das Feuer rekapituliert Baldwin auch seine Kindheit in Harlem und die Emanzipation von seinem tiefgläubigen Vater, der seinen christlichen Eifer an den Sohn weiterreichen wollte. Die Religion war für Baldwin eine Versuchung, die er wie eine Droge überwinden musste. Noch in der Konfrontation mit Elijah Muhammad, dem Anführer der Black Muslims, – eine der dokumentarischen Passagen des Buches – hallt ihre Wirkung nach.

In dessen kalkuliert guruhaftem Auftreten und devot gebannten Zuhörerschaft entdeckt er nicht nur falsche Versprechungen, sondern auch die extremistischen Tendenz der Spaltung wieder, die er mit seinem offenen Denken zu überwinden sucht.

"Vielleicht liegt die Wurzel unserer Misere, der menschlichen Misere darin, dass wir die ganze Schönheit unseres Lebens opfern, uns von Totem, Tabus, Kreuzen, Kirchtürmen, Moscheen, Rassen, Armeen, Flaggen und Nationen einsperren lassen, um die Tatsache des Todes zu opfern, die einzige Tatsache, die wir haben."

Die Antwort, die Baldwin auf diese universelle Herausforderung gibt, ist eindeutig und gar nicht einmal sehr schwer zu verstehen: Sie lautet, Verantwortung für das Leben zu übernehmen. Und dazu gehört: Veränderung, Erneuerung, Abschied von falschen Konstanten – darin ist James Baldwin eigentlich sehr amerikanisch. (Dominik Kamalzadeh, ALBUM, 16.3.2019)