Heimlich mit der Taschenlampe Bücher lesen war früher ein Nervenkitzel. Heute strahlt das Tablet ganz von selbst.

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Lukas Wagner meint, dass Eltern mit der digitalen Realität leben lernen müssen. Sowohl sie selbst als auch ihre Kinder sollten das Nutzungsverhalten immer wieder kritisch hinterfragen.

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"Mama, ich bin jetzt auch auf HouseParty. Und nachher spielen wir wieder LOL oder Minecraft PvP." Mit diesem Zitat eines Jugendlichen beschreibt der Psychotherapeut Lukas Wagner in seinem Buch "Die Generation Digital", wie sich die Welt seit der Erfindung von Internet, Smartphone und Co mitsamt der zwischenmenschlichen Kommunikation und Beziehungen verändert hat. Der Medien- und Sexualpädagoge gibt Eltern und Bezugspersonen Tipps, wie sie ihre Kinder beim Heranwachsen in der vernetzten Welt begleiten können.

STANDARD: Smartphones haben unsere Art zu leben vollkommen verändert. Kinder kennen die Welt nicht anders, ihre Eltern leben es so vor. Kann das alles nur schlecht sein?

Wagner: Nein, das ist alles Teil unserer Lebenswelt mit allen Vor- und Nachteilen. Die Chancen der Digitalisierung überwiegen meiner Meinung nach sogar klar die Risiken: Die vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation, der kreative Ausdruck, der Austausch und die Interaktion.

STANDARD: Das heißt, Sie sind ein Fan der digitalen Partizipation?

Wagner: Im Fernsehzeitalter waren wir reine Rezipienten. Das Web 2.0. war die Wende, wir sind als User wirklich partizipativ. Wir sind von Konsumenten zu Produzenten geworden: Wenn wir Facebook nicht nutzen, gibt es kein Facebook. Wir entscheiden, wie wir diese Plattformen nutzen. Das sehe ich positiver, als vor dem Fernseher zu sitzen. Das Internet ist das, was wir daraus machen.

STANDARD: Die Mediennutzung junger Menschen steigt extrem an, dennoch raten immer weniger Wissenschafter zu konkreten Limits oder Verboten.

Wagner: Verbotenes wird nur noch interessanter oder artet in Machtkämpfe aus. Irgendwann haben Eltern ohnehin keine Kontrolle mehr. Ein 13-Jähriger spielt ein verbotenes Spiel eben bei seinem besten Freund. Wenn ich ihn aber dabei begleite, kann ich aktiv mitgestalten, kritisch hinterfragen: Wie findest du das, was gefällt dir daran? Das ist viel natürlich viel mehr Aufwand.

STANDARD: Sind Zeitempfehlungen auch nicht sinnvoll?

Wagner: Vom deutschen Bundeszentrum für gesundheitliche Aufklärung gibt es Zeitempfehlungen. Das ist vor allem bei kleinen Kindern als Orientierung für die Eltern schon wichtig. Aber in Wahrheit macht die Qualität der Inhalte den Unterschied: Spielen Siebenjährige irgendein Spiel, oder schauen sie mit ihren Eltern eine Doku über Pottwale. Zeit ist schwer zu fassen: Eine Runde in einem Computerspiel ist oft zeitlich nicht limitiert, Youtube-Videos sind unterschiedlich lang – im Gegensatz zum Kinderprogramm im Fernsehen.

STANDARD: Neuerdings gibt es Smartphone-Halterungen für Kinderwagen schiebende Eltern. Allerdings kann man sie auch umdrehen ...

Wagner: Das sehe ich entwicklungspsychologisch ganz kritisch: Unter Dreijährige lernen sich nicht mehr zu beruhigen, sondern werden nur abgelenkt. Das stört natürliche Regulationsmechanismen. Bei den ganz Kleinen ist aufgrund der Gehirnentwicklung auch die Unterscheidung zwischen realer und virtueller Welt noch nicht gegeben.

STANDARD: Was sind die konkreten Auswirkungen zu häufiger Ablenkung?

Wagner: Laut der deutschen BLIKK-Studie kommt es statistisch häufiger zu Ein- und Durchschlafstörungen und motorischer Hyperaktivität. Es gibt den Verdacht, dass die Bindung beeinträchtigt wird. Eine andere Studie weist darauf hin, dass die Feinabstimmung zwischen Mutter und Kind verlorengeht, wenn beim Stillen ständig das Smartphone dabei ist (ich spreche nicht von ab und zu). Denn über den Blick geschieht viel Unbewusstes. Aber skypt ein einjähriges Kind ab und zu mit der Oma, wird es deswegen keine Persönlichkeitsstörungen entwickeln.

STANDARD: Was bedeutet die ständige Verfügbarkeit von Wissen und Unterhaltung auf Knopfdruck für die Entwicklung?

Wagner: Ich orte einerseits eine zunehmende Ungeduld. Oft besteht auch die Sorge, wir könnten durch das Internet dümmer werden. Doch eine Studie hat gezeigt, dass wir nicht dümmer werden, sondern nur mehr zu wissen glauben, als wir eigentlich wissen. Wir müssen gemeinsam mit den Kindern lernen, bessere Fragen zu stellen. Antworten gibt es, und das in unterschiedlicher Qualität. Damit muss man kritisch umgehen.

STANDARD: Sie halten auch Vorträge in Bildungseinrichtungen und für Eltern. Was sind die häufigsten Fragen?

Wagner: Eltern wollen wissen, wie sie Zugänge sperren und ihren Kindern am besten erklären können, dass sie nicht am Handy spielen dürfen. Allerdings kann man jede Sperre aushebeln. Ein noch wichtigerer Punkt: Kindern lernen von ihnen, Jahre bevor sie ihr eigenes Smartphone besitzen, wie man damit umgeht. Eltern vergessen, dass sie am meisten mit ihrer Vorbildwirkung ausrichten können. Helfen können auch Apps, mit denen die Familienmitglieder ihre Bildschirmzeit tracken können. Es ist sinnvoll, darüber zu reden. Kinder und Eltern sind oft überrascht, wie viel Zeit sie online verbringen.

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Forschung dazu hinterherhinkt.

Wagner: Ich frage mich, ob sich die Forschung weniger dem Handy und seinen Auswirkungen widmen sollte als vielmehr der menschlichen Interaktion. Als Psychotherapeut merke ich, dass sich Beziehungen ändern. Das Gerät ist nur Mitauslöser. Schwierig ist auch, dass es ständig neue Apps und geändertes Nutzungsverhalten gibt: Forscher müssen ständig von vorn anfangen.

STANDARD: Jugendliche sind oft unsicher, wie sie auf eine Abfuhr im realen Leben in den sozialen Netzwerken reagieren sollen. Sie stellen Fragen wie: Soll ich ihr noch schreiben? Soll ich ihn entfolgen?

Wagner: Die junge Generation unterscheidet wenig zwischen Online- und Offline- Beziehungen. Vertrautheit und Intimität haben sich verändert. Als Sexualpädagoge merke ich das auch auf sexueller Ebene: Es gibt weniger Sexualkontakte bei den Jungen. Sie leben nur scheinbar eine offene Sexualität, es geht eher ins Pornografische. Wirkliche Beziehung hingegen bergen Risiken: in die Augen schauen, jemanden berühren, "Ich liebe dich" sagen – digital ist das Leben einfacher.

STANDARD: Sind wir heute kontaktfreudiger?

Wagner: Wir sind hypervernetzt, aber einsamer denn je. Einsamkeit ist oft gut zugedeckt, es braucht viel Vorarbeit, sie bewusst zu machen: Meine Klienten sagen, sie haben so viele Freunde und kommunizieren viel mit anderen. Sie glauben, sie sind viel in Kontakt mit anderen. Für sie ist virtuell real.

STANDARD: Aber muss man ihnen das nicht auch zugestehen? Das Digitale ist Teil der Welt.

Wagner: Ja, definitiv. Es ist immer das Vorrecht der kommenden Generation, Neues zu erfinden und uns hoffentlich damit vor den Kopf zu stoßen. Womit können Jugendliche heute noch provozieren und sich abgrenzen? Das gelingt digital hervorragend. Unsere große Chance als Eltern: Wir können ihnen Beziehung offline als gute Alternative anbieten und zeigen, dass schwierige Momente auch in der Realität bestens bewältigt werden können. (Marietta Adenberger, 17.3.2019)

Lukas Wagner, "Die Generation Digital – Heranwachsen in einer vernetzten Welt".
€ 18,50 / 184 Seiten.
Leykam-Verlag, Graz/Wien, 2019
Buchcover: Leykam