Die ehrliche und geschlossene Verurteilung der brutalen Attacke in Neuseeland sei lückenlos, sagt Erich Kolig.

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Der Sozial- und Kulturanthropologe Erich Kolig ist Autor zahlreicher Artikel und Bücher, unter anderem forschte er zu den muslimischen Gemeinschaften Neuseelands und ihrer Integration.

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Durch den Anschlag auf die Moscheen in Christchurch sei erschreckend klar geworden, dass es eine rassistische Schattenseite der neuseeländischen Gesellschaft gibt, sagt der Kulturanthropologe Erich Kolig. An der toleranten und aufgeschlossenen Kultur des Landes habe der Terrorangriff jedoch nichts geändert. Der österreichisch-neuseeländische Doppelstaatsbürger forschte über Neuseelands muslimische Gemeinschaften, Multikulturalismus, Integration und den konservativen Islam. Generell sei die Integration der Muslime in Neuseeland gut. Die Verantwortlichen der muslimischen Gemeinschaften seien bedacht darauf, dass radikales islamistisches Gedankengut nicht an Boden gewinnt.

STANDARD: Neuseeland gilt als ein Modellland einer liberalen Gesellschaft. Wieso kommt es gerade hier, wie auch schon in Norwegen mit dem Breivik-Anschlag, zu einer solchen Attacke?

Kolig: Die plötzliche Erkenntnis ist grausam, dass Rassismus und tödliche Islamophobie auch in Neuseeland zu Hause sind – allerdings nicht in konzentrierter, leicht erkennbarer Form. Es ist im Großen und Ganzen richtig, das Land im westlichen Gesamtbild als außerordentlich tolerant, kulturell aufgeschlossen, pluralistisch und multikulturell anzusehen. Daran hat sich trotz dieser fürchterlichen Attacke nichts geändert. Solidaritätskundgebungen mit der muslimischen Gemeinschaft und emotionelle Sympathiebekenntnisse aller Art sind außerordentlich stark und ergreifend. Die ehrliche und geschlossene Verurteilung dieser brutalen Attacke ist lückenlos. Dass es daneben eine ultrarechte, rassistische Schattenseite der neuseeländischen Gesellschaft gibt, ist eben erschreckend klar geworden. Wenn man die Sache naiv-mechanistisch sehen will. Vielleicht gerade deshalb, weil es in der Öffentlichkeit trotz Redefreiheit nicht akzeptabel ist, sich rassistisch oder islamophob zu äußern, schwelt der Hass im Untergrund und macht sich dann explosiv bemerkbar. Andererseits hat der Attentäter, ein Australier, seine Hassmotivation von Australien herübergeschmuggelt.

STANDARD: Wie stark sind rechtsextreme oder rassistische Ideen in Neuseeland in der Gesellschaft verwurzelt? Wie stark ist die politische Basis für rechte Ideen?

Kolig: Den ideologischen, politischen Rechtsruck, der durch die westliche Welt geht, hat Neuseeland als Nation nicht mitgemacht. Dass es rassistische Phänomene und Ressentiments gibt, ist klar, aber da sie bisher völlig unbedeutend waren, haben sie keine besondere Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Wenn etwa Meinungen als "rassistisch" gebrandmarkt wurden, dann war es höchstens leichte Kritik an den Privilegien, die angeblich die indigenen Maori kollektiv genießen.

Dazu muss man wissen, dass das Land offiziell bikulturell ist, das heißt, Tikanga Maori, die indigene Maori-Kultur, und die Maori-Sprache te Reo Maori sind gleichberechtigt mit der anglo-keltischen Kultur und der englischen Sprache. Es wird streng darauf geachtet, dass keine negativen Ressentiments gegen die Tangata Whenua, die Indigenen, stark werden. Polynesische Staaten haben im Sinne von "Nachbarschaft" einen bevorzugten Immigrationsstatus, und ihre Einwanderungsrate ist hoch. Daher ist schon eine gewisse nationale Grundstimmung der kulturellen und ethnischen Toleranz geschaffen und offenem Rassismus ein Riegel vorgeschoben.

In neuerer Zeit gibt es vereinzelt Stimmen, die auf eine Gefahr einer chinesischen "Unterwanderung" hinweisen. Das ist nicht unbedingt im Sinne der Bevölkerungszahl oder "rassisch" gemeint, sondern eher auf finanziellen und politischen Einfluss bezogen. Die muslimische Gemeinschaft mit nur etwa 50.000 Personen hat ein relativ geringes Profil in der stark pluralistischen Zusammensetzung der Bevölkerung. Kulturelle und religiöse Freiheit wird hier sehr ernst genommen und durch das Gesetz geschützt.

STANDARD: Haben Rechtsextremisten wie der Christchurch-Attentäter ein Netzwerk, oder handelt es sich dabei um isolierte "einsame Wölfe"?

Kolig: Das ist die interessante Frage, die die Geheimdienste anscheinend bisher ignoriert haben. Es ist zu vermuten, dass sich der staatliche Überwachungsdienst in hohem Maß auf islamischen Extremismus konzentrierte und daher das ideologische Gegenteil, nämlich Islamophobie, an Aufmerksamkeit vernachlässigte – eben weil die nationale Latte der allgemeinen Toleranzstimmung so hoch liegt. Auch ich landete durch meine akademische Beschäftigung mit dem Islam und Muslimen auf der "Interessenliste" der neuseeländischen Sicherheitsdienste. Ob es ein landesweites Netzwerk weißer Rassisten gibt, so kommt mir vor, weiß nicht einmal der Geheimdienst. Dass hier wichtige Zeichensetzungen im Internet vernachlässigt wurden, ist eindeutig. Leider hatte der Attentäter sein bizarres Manifest erst Minuten vor dem Anschlag ins Internet gestellt und daher nicht zeitgerecht den Alarm ausgelöst. Natürlich gibt es auch hier abfällige Bemerkungen über Kopftuchfrauen oder vereinzelte Versuche, einer Frau den Hijab herunterzureißen. Solche Fälle stoßen auf Widerwillen in der breiten Bevölkerung und werden entsprechend bestraft.

STANDARD: Sie haben über Muslime in Neuseeland und über Integration von Muslimen geforscht. Unterscheidet sich die Integration von Muslimen in Neuseeland von anderen Ländern?

Kolig: Ich glaube, ja. Die Integration der muslimischen Bevölkerung ist gut. Dass es gewisse soziale Barrieren und Präferenzen gibt, ist klar. Sprachschwierigkeiten von neueren Einwanderern, kulturelle Gewohnheiten wie Halal-Gebote, Alkoholverbot oder Geschlechtertrennung machen den persönlichen sozialen Kontakt etwas schwierig. Aber extreme Aspekte der Scharia stellen kein Problem dar. Ehrentötung oder islamischer Terrorismus und dergleichen sind nicht vorgekommen. Zusammen mit multikultureller Toleranz der Mehrheitsgesellschaft haben sich Muslime allgemein gesprochen gut angepasst, auch ohne gezielten Assimilationsdruck.

STANDARD: Welche Konflikte bestehen zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen beziehungsweise innerhalb der muslimischen Gemeinschaften?

Kolig: In den 1990er-Jahren war eine Fundamentalisierung des Islam zu beobachten. Vorher herrschte ein sehr moderater, unauffälliger Islam, getragen von Religionsführern indischer und fidschianischer, teilweise auch südostasiatischer und europäischer Herkunft. Dann kam eine arabische und afghanische Einwanderungswelle, die einen eher wahhabitisch gefärbten puristischen Einfluss mitbrachte, jedoch friedlich blieb. Der offizielle interkonfessionelle Kontakt zwischen muslimischen Organisationen und diversen Kirchen und auch der jüdischen Interessenvertretung ist schon beinahe als herzlich zu bezeichnen. Das Empfinden, Anhänger irgendeiner Religion zu sein, schafft scheinbar an sich schon ein gewisses Solidaritätsgefühl in einer betont säkularen Gesellschaft.

STANDARD: Wird der Anschlag die Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen in Neuseeland langfristig belasten?

Kolig: Es bedürfte der Prophetie, hier eine Vorausschau zu machen. Am ehesten lässt sich sagen, dass das Sicherheitsgefühl der Muslime gegenüber der dominanten Mehrheitsgesellschaft erschüttert ist. Andererseits kommt es augenblicklich zu ungewöhnlich und rührend emotionellen Solidaritätskundgebungen der Bevölkerung mit der muslimischen Minorität. Auf offizieller innenpolitischer Ebene wird vermutlich nichts geändert.

STANDARD: Gibt es in Neuseeland Tendenzen zu einer Parallelgesellschaft? Besteht die Gefahr, dass der Anschlag solche Tendenzen stärkt?

Kolig: Manche sehen hier eine Gefahr für die westliche Welt, die meiner Meinung nach nicht besteht. Von Anfang der europäischen Besiedlung an gab es in Neuseeland keine homogene Gesellschaft. Als Einwanderungsland haben viele verschiedene ethnische Gruppen hier eine Heimat gefunden, obwohl ein paar Jahre lang eine "White New Zealand"-Einwanderungspolitik betrieben wurde – die aber viele Lücken hatte. Besonders Maori genießen viele Sonderrechte wie die Gleichberechtigung ihrer traditionellen Kultur und Sprache. Sie besitzen ein eigenes Wahlsystem, garantierte Sitze im Parlament und so weiter. Wenn es überhaupt eine Parallelgesellschaft in Neuseeland gibt, dann ist es die der Maori. Da besteht aber keine Gefahr für die Gesamtgesellschaft. Auf dieser Grundlage denkt niemand daran, dass eine – auch für neuseeländische Verhältnisse kleine – Minorität wie die Muslime sich rechtlich, politisch, ideologisch, sozial abschotten könnte. Räumliche Teilung in ethnische Bezirke ist so gut wie nicht bekannt. Als Einwanderungsland ist es natürlich, dass kulturell eng Verwandte ein bisschen zusammenstehen. Im Großen und Ganzen ist eine Parallelgesellschaft als soziales Phänomen kein Thema der Debatte.

STANDARD: Wie sind die Beziehungen zwischen dem Staat und den Vertretern der muslimischen Gemeinschaften in Neuseeland geregelt?

Kolig: Neuseeland ist stark säkularisiert, nimmt aber religiöse Freiheit ebenso wie Meinungsfreiheit prinzipiell sehr ernst. Daher gibt es keine offizielle Verbindung zwischen religiösen Organisationen und dem Staat oder der Regierung. Muslime haben eine nationale und mehrere regionale Organisationen, die ihre Meinung zur politischen und ideologischen Debatte wie jeder Staatsbürger und Einwohner beitragen können. Kommunikationskanäle und Kontakte zwischen islamischen Organisationen und Regierung werden nicht ungewöhnlicherweise aktiviert, um wichtige Konsultationen auszuführen. Nach der horrenden Attacke wurden alle führenden Funktionäre der Islamorganisationen zusammengebracht, um das weitere polizeiliche und gerichtsmedizinische Vorgehen so kultur- und religionsgerecht wie möglich zu gestalten. Mehrere ethnische Minderheiten sind im Parlament vertreten, allerdings hauptsächlich als Vertreter einer politischen Partei. Vor einigen Jahren saß ein muslimischer Immigrant, ein pakistanischer Universitätsprofessor, für die Labor Party im Parlament.

STANDARD: Der Attentäter erklärt in seinem "Manifest", er habe die Moschee in Christchurch unter anderem wegen einer "Vorgeschichte des Extremismus" ausgewählt. Gibt es so eine Vorgeschichte?

Kolig: Extremismus ist letztlich ein relativer Begriff. In einem von mir herausgegebenen Sammelband hat ein Beitragender, der den Vorfall als Insider gut beobachten konnte, darüber geschrieben. Etwas radikalere Planungsideen waren von der Moscheeführung vorgebracht worden, zumeist die Finanzierung und Erweiterung der Moscheeaktivitäten betreffend, und wurden von einer Gegengruppe abgelehnt. Das war lange bevor der IS in Erscheinung trat und noch vor dem 9/11-Anschlag in New York. Es war die zerstrittene lokale muslimische Gemeinschaft selbst, die die interne Zwistigkeit der breiteren Bevölkerung zur Kenntnis brachte. Die Presse hat dann das Ganze etwas interessanter gestaltet.

STANDARD: Wie stark sind islamistische Strömungen in den muslimischen Gemeinschaften Neuseelands ausgeprägt?

Kolig: Mein Eindruck ist, dass die moderate nationale Leitung sehr bedacht darauf ist, dass radikales islamistisches Gedankengut nicht an Boden gewinnt. Mehrere Male haben zum Beispiel antisemitische Äußerungen von einigen wenigen Imamen zur strengen Verurteilung durch die nationale Vertretung geführt und zur Suspendierung der betreffenden Prediger. "Hate speech" ist eine juridische Grauzone, wird aber als Konzept im nationalen Diskurs gerne bemüht, um radikales Gedankengut abzulehnen. Es ist meiner Meinung nach bezeichnend, dass nur etwa zehn neuseeländische Staatsbürger und Einwohner bekannterweise in das Krisengebiet Nahost gereist sind, um sich dem "Islamischen Staat" anzuschließen. Soviel ich weiß, ist es bisher nur zu zwei oder drei Verurteilungen von Muslimen gekommen, die angeklagt waren, extremistisches Material vom IS angefordert und verbreitet zu haben. Das wurde breit berichtet, weil es so ungewöhnlich ist.

STANDARD: Werden muslimische Einrichtungen in Neuseeland aus dem Ausland finanziert?

Kolig: Teilweise ja. Saudi-Arabien steht, soviel ich weiß, mit einigen Stiftungen an erster Stelle. Wie sehr dies mit der Verbreitung von Wahhabismus verbunden ist, würde ein eigenes Forschungsprojekt benötigen. Moscheenbau und die Einrichtung islamischer Schulen sind natürlich wegen der geringen Zahl von Muslimen im Land auf finanzielle Unterstützung aus Übersee angewiesen. Dagegen gibt es keine staatliche Regelung. Es sind oft interne muslimische Stimmen, die sich gegen eine Verbindung zwischen Finanzhilfe und sektiererischen Interessen richten. (Michael Vosatka, 18.3.2019)