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Lennie Tristano – ein blinder Meister und Miterfinder des Cool im Jazz.

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Wenn Lennie Tristano hinter seinen Klaviertasten jemals gelächelt haben sollte, so hat sich dieses Wunder leider nicht überliefert. Der Miterfinder des US-Cool-Jazz, ein Kind italienischer Einwanderer in Chicago, das mit zehn Jahren erblindete, war allem Anschein nach recht humorlos. Dabei erlernte Klein-Lennie auf der Blindenschule nicht nur das Klavierspiel, er versuchte sich obendrein an Saxofon, Klarinette und Cello.

Als klassischer Musikstudent fand Tristano immerhin Muße, zu vorgerückter Stunde Dixieland zu blasen. Damit nicht genug, bewegte er als Rumbaspieler die Tanzbären in Cocktailbars. Er beherrschte auf Nachfrage sogar den Trick, zwei Klarinetten und drei Saxofone (oder war es umgekehrt?) gleichzeitig zu blasen.

Lust an Mätzchen

Hübsche Anekdoten. Sie beweisen, dass dieser so verkniffen dreinblickende Mann doch auch Lust an Mätzchen besaß. Berühmt wie berüchtigt wurde Lennie Tristano (1919–1978) später dafür, der amerikanischen Unterhaltungsmusik des Jazz das Verschwitzte ausgetrieben zu haben. Mithin alles Kulturindustrielle, das Käufliche, das noch Theodor W. Adorno zur Weißglut trieb. Von nun an meinte, wer Jazz sagte, Kunstmusik. Cool-Jazz hingegen bedeutete ab 1950, ausdrucksvolle Linien (häufig in kleinen und großen Sekunden) zu spielen, manchmal auch mehrstimmig und gegeneinander, sie jedoch ohne Überdruck zu intonieren.

Lennie Tristano 1965.
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"Kühl" war Lennie Tristanos Musik nicht bis ans Herz. Sie strahlte nur kristalline Unnahbarkeit aus. Sie verweigerte Unterbrechungen: Zäsuren in der Kadenz, um Improvisationen nicht mutwillig zu unterbrechen.

Halb sehnsüchtig, halb hochmütig

Die "neue" Kunst sollte ein zerebrales Vergnügen sein. Dabei durften gerne auch Harmonieschemata vernachlässigt werden. Der Jazz pflanzte sich – sinnbildlich – an der US-Küste auf und blickte, halb sehnsüchtig, halb hochmütig, hinüber zur zeitgenössischen Neuen Musik. Wie es auch kein Zufall ist, dass Dave Brubeck Schüler von Darius Milhaud war. Und der Zahnarztsohn Miles Davis als Student mit glühenden Ohren Partituren von Debussy zu Tode analysiert hatte.

Etwa zur Mitte der 1940er-Jahre war die Bebop-Revolution losgebrochen. Und unter den Genies dieser Tage, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Fats Navarro, sah man auch diesen auffallend bleichen Klavierspieler, für den es keine Off-Beat-Phrasierung zu geben schien. Der seine Tonketten mit der Präzision eines Schülers von Johann Sebastian Bach nacheinander auffädelte.

Freuden der Pädagogik

Legionen junger Wilder (im Anzug), die meisten von ihnen Afroamerikaner, schleuderten den verdutzten Jazzfans Myriaden von Tönen an die Köpfe. Lennie Tristano tat das auch. Er frönte dabei jedoch der Abstraktion. Er sammelte zum Ende des Jahrzehnts wie ein Zen-Meister Schüler um sich. Den Altsaxofonisten Lee Konitz, den Tenoristen Warne Marsh und manche andere.

Tristanos Requiem aus 1955.
Tadeus Jazz

Die Herrschaften mussten Tristanos Phrasen nachspielen. Mehrere solcher Phrasen wurden zu Linien zusammengesetzt und schließlich aufgeschrieben. Jeder Solist bekam zum Beispiel nur zwei Chorusse. Es oblag seinem instrumentalen Geschick, in der vorhandenen Zeit alle Töne unterzubringen. Gelegentlich meint man noch heute bei Genuss dieser Aufnahmen von 1949 oder 1951 Fünfer- oder Sechsergruppen von Außerirdischen beim (instrumentalen) Morgengebet zu lauschen.

Faszinierende Zukunft

Tristano selbst war viel zu introvertiert als Intellektueller, um als Kassenknüller Karriere zu machen. Er gründete eine Schule in der 32nd Street in Manhattan und unterrichtete spätere Größen wie Art Pepper oder Mary Lou Williams. Der Blinde nahm im eigenen Aufnahmestudio über einer Garage einige der verblüffendsten Pianoplatten der Jazz-Geschichte auf. Nummern wie den Turkish Mambo, in dem er unterschiedliche Ostinato-Figuren im 3er-, 5er- und 7er-Metrum übereinanderlegte. Das hört sich noch heute an wie Musik aus einer faszinierenden Zukunft.

Dieser Howard Hughes des Jazz plädierte in der Musik für eine "Befreiung des Gefühls". Seiner eigenen hielt er zugute, dass der Hörer sich in der entkrampfenden Situation befinde, nicht zu wissen, was als Nächstes kommt. Nur der Nostalgiker rechne fest mit dem Erwarteten. Nostalgiker, so Tristano, seien Neurotiker. Noch heute verbreiten Jünger wie Lee Konitz und Lenny Popkin (Saxofon) die strenge Frohbotschaft dieses seltsamen Heiligen. (Ronald Pohl, 19.3.2019)