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Carlos Ghosn wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Er saß 108 Tage hinter Gittern. Kritiker nennen das Vorgehen japanischer Behörden "Geiseljustiz".

Foto: Yukie Nishizawa/Kyodo News via AP

Mit der Entlassung von Carlos Ghosn nach 108 Tagen Haft hat in Japan eine Debatte über die sogenannte "Geiseljustiz" eingesetzt. Mit dem Wort beschreiben Kritiker von Japans Justizwesen die Strategie der Strafverfolger, Verdächtige wie eine Geisel in Untersuchungshaft zu behalten, um ein Geständnis zu erpressen. Ohne dieses "Lösegeld" ist eine Haftentlassung auf Kaution bis zum Prozess kaum möglich.

Den Extremfall lieferte der Finanzberater Nobumasa Yokoo mit 966 Hafttagen. Er bestreitet bis heute den Vorwurf, er habe die Bilanzen des Optikkonzerns Olympus manipuliert. Der Abgeordnete Muneo Suzuki saß unter der Anklage der Bestechlichkeit 437 Tage in Untersuchungshaft. Wie bei Ghosn wurde die Haft damit begründet, dass er fliehen, Beweise manipulieren und Zeugen einschüchtern könnte. Die Justiz reagiert zugleich auf die Erwartung der Gesellschaft, dass sie vor Kriminellen geschützt wird. Viele Japaner halten das Bekennen eines Fehlverhaltens für eine soziale Pflicht. Doch Berichte über die Haftumstände von Ghosn haben die Augen geöffnet.

Die Habeas-Corpus-Rechte bei einer Festnahme sind in Japan zur Unkenntlichkeit verzerrt. Erst nach drei Tagen gibt es eine Haftprüfung, aber ohne den Grundsatz "In dubio pro reo". Der Haftrichter geht davon aus, dass die Strafverfolger wissen, was sie tun. Die Untersuchungshaft dauert bis zu 20 Tage, erst dann muss die Anklage stehen. Bei keinem Verhör ist ein Anwalt zugegen. Gesteht der Beschuldigte immer noch nicht, wird er oft wegen eines ähnlichen Vorwurfs erneut verhaftet und 23 Tage befragt und so weiter.

Anhörung im Parlament

Nun hat sich der Wind gedreht. "Die Freilassung von Ghosn könnte das System der Geiseljustiz beenden", meinte Hiroshi Kadono, ein pensionierter Richter am Obersten Gericht von Tokio. Das Justizministerium sei zu strikt und unangefochten, darin liege ein "riesiges" Problem, erklärte Takeshi Niinami. Er ist Chef des Getränkeriesen Suntory und der mächtigste Familienunternehmer Japans. Im Parlament fand vor kurzem die erste Anhörung von Experten zur Geiseljustiz statt. "Der Fall Ghosn wird zum Wendepunkt, weil die Verletzungen der Menschenrechte im Ausland bekannt wurden", sagte der Ex-Staatsanwalt Nobuo Gohara.

Ähnlich wie in den USA spielen die Strafverfolger in Japan eine hervorgehobene Rolle. Sie entscheiden fast allein, ob sie Anklage erheben oder nicht. "Einen Prozess beginnen sie nur, wenn sie von der Schuld überzeugt sind", erläuterte Rechtsanwalt Hiroyuki Kamano. Das ist die Ursache dafür, dass 99,97 Prozent der Prozesse mit einer Verurteilung enden. 86 Prozent der Verurteilten hatten gestanden. Doch noch immer könnte jeder Zehnte laut Experten unschuldig sein. Immerhin sitzen nur 41 von je 100.000 Japanern in Haft, die deutsche Rate beträgt 77.

Der Fall Ghosn liegt anders. Normalerweise sammelt die Polizei Beweise und verhört Verdächtige. Aber Ghosn wurde von einer Sonderuntersuchungseinheit der Staatsanwaltschaft festgenommen, die gegen Beamte, Manager und Politiker vorgeht. Diese Einheit greift bei gesellschaftlich bedeutenden Straftaten ein und spricht sich oft mit politischen Stellen ab. Bei Ghosn ging es vermutlich darum, die Verschmelzung von Nissan und Renault zu verhindern. Als Hebel diente das hohe Einkommen des Automanagers, das gesellschaftlich unerwünscht ist. Die Staatsanwälte dieser Einheit sind selbst für die Beweisaufnahme zuständig. Dadurch stehen sie unter hohem Erfolgsdruck. "Wenn sie gewinnen, sind sie Helden, aber wehe, sie verlieren", sagte Ex-Staatsanwalt Gohara. (Martin Fritz, 20.3.2019)