"Jugoslawen-Fragmente", gesehen in Bielefeld.

Foto: imago/ecomedia/robert fishman

Es ist nicht so, als habe man mich nicht vorgewarnt. Eine Freundin sagte, sie habe ein ganzes Wochenende in Gedanken verbracht, eine andere hat schon auf Seite acht geweint. Ich habe fast auf jeder Seite geweint und denke noch immer nach. Darüber, was Herkunft eigentlich bedeutet, für mich und im Allgemeinen. Und darüber, wie und ob ich euch, meinen Lesern, "Herkunft" empfehlen kann.

Fragmente

Empfehlen muss ich das Buch natürlich jenen unter euch, die zu dieser einen Generation der erfolgreich Verpflanzten gehören. Saša Stanišić nennt uns "Jugoslawen-Fragmente". Er meint jene, die jetzt überall auf der Welt verstreut sind und schon lange mitten im Leben stehen. Und, wenn wir dann ab und zu (was wohl menschlich ist) zurückschauen, nicht bloß den üblichen sentimentalen Phantomschmerz aller Migranten spüren, sondern auch den größeren Verlust einer ganzen Welt bedauern. Die Welt, in der wir Kinder waren, existiert nicht mehr.

Was ist daran außergewöhnlich, wird der Rest fragen. Nun, wird man erwachsen, dann ist der Verlust dieser zauberhaften, naiven Welt der Kindheit unvermeidlich. Was aber ist, wenn gleichzeitig ein ganzes Land untergeht, man fliehen muss und Heimat und Sprache verliert?

Darüber schreibt Saša Stanišić gekonnt feinsinnig und poetisch. Er schreibt auch über jene, die Herkunft mitbestimmen: über die Groß- und Urgroßeltern und über ihre Leben und das, was daraus in unsere Leben hineinreicht. Er schreibt über die Kindheit in Jugoslawien und das Erwachsenwerden in Deutschland. Und über die Rückkehr in die Geburtsstadt, immer wieder, Jahrzehnte später.

Schluss machen

Und während Saša Stanišić über deutsche Aral-Tankstellen schreibt und über bosnische Berge, in denen Drachen wohnen, weine ich also viel und erkenne vieles wieder. Aus dem gleichen Grund muss ich aber auch oft lachen.

Etwa wenn er beschreibt, wieso Teenagerliebe in einer Sprache, die man noch nicht kann, nur tragisch enden kann. "Susanne spricht kein Serbokroatisch und kein Englisch. Dein Deutsch ist noch zu schlecht, um wirklich ehrlich verliebt zu sein. (...) Vierundzwanzig Stunden später sagt Susanne: Es ist aus. Aus was?, fragst du. Aus, also mit uns. Ich will mit dir nicht mehr gehen. Gehen wohin?, fragst du. Ausgehen? Nein, du verstehst nicht – ich mach Schluss." Ich weiß nicht, was Saša Stanišić nach diesem denkwürdigen Gespräch gemacht hat. Ich bin damals in den 5er gestiegen und habe mindestens sieben Stationen lang geweint.

Empfehlung

Schlussendlich muss ich euch natürlich allen "Herkunft" empfehlen. Egal ob ihr selbst oder eure unbekannte böhmische Ururgroßmutter plötzlich, ungeplant und zunächst sprachlos in einem fremden Land gelandet seid. "Herkunft" ist zum Glück keine sentimentale Suche nach den eigenen Wurzeln, es ist – Gott bewahre – auch keine sulzige Liebeserklärung an die Heimat.

"Herkunft" ist das autobiografische Buch eines Generationsgenossen, der eben aufgrund der Herkunft gut mit Widersprüchen kann, einen klaren Blick auf die dramatische Vergangenheit hat und wahre Fabeln erzählt; und dessen Sprache abwechslungsreich, außergewöhnlich und verführerisch ist. (Olivera Stajić, 26.3.2019)