In der Diskussion über soziale Sicherheit sollen laut Expertinnen auch Kinderrechte berücksichtigt werden.

Foto: APA/dpa/Marcel Kusch

Was es bedeutet, Mindestsicherung zu beziehen, weiß Susanne aus eigener Erfahrung. Bis zur Trennung arbeitete sie im Unternehmen ihres Ehepartners, das anschließende Arbeitslosengeld fiel so gering aus, dass Susanne zur "Aufstockerin" wurde. "Meine Ehe war furchtbar", erzählt sie im STANDARD-Gespräch. Ihr Ex-Mann manipulierte Susannes Unabhängigkeitsbestrebungen gezielt, mit seiner Firma schlitterte er in die Insolvenz. Es dauerte lange, bis sie den Mut fasste, die Beziehung zu beenden. "Ich habe mir große Sorgen gemacht, vor allem um unsere gemeinsame Tochter", sagt sie. Mit der Trennung kam das Burnout, drei Wochen verbrachte sie in einer psychiatrischen Klinik.

Um überhaupt Mindestsicherung beziehen zu können, musste Susanne auf dem Ehegatten-Unterhalt bestehen und diesen auch exekutieren lassen. Ihr Ex-Mann pochte auf das bei der Scheidung vereinbarte Aufenthaltsbestimmungsrecht der Tochter. Bis Susanne eine Doppelresidenz vor Gericht erstreiten konnte, sah sie ihre Tochter nur alle zwei Wochen. Monatelang war sie mit Behördengängen beschäftigt, suchte nach Beratungsmöglichkeiten, recherchierte im Internet. "Einen Anwalt konnte ich mir ja unmöglich leisten", erzählt sie.

140 Stellungnahmen von NGOs

Durch einen glücklichen Zufall fand Susanne zumindest eine Wohnung, die ein Bekannter ihr günstig vermietete, mit 44 Quadratmetern gerade groß genug für sich und ihre Tochter. Und trotzdem: Sich einen Restaurantbesuch oder einen neuen Pullover zu leisten ist für Susanne undenkbar. Die 42-Jährige kauft gebraucht im Internet oder in Sozialmärkten, als gelernte Schneiderin repariert sie viele Dinge selbst.

"Am Wochenende musste ich feststellen, dass mir noch 14 Euro für diesen Monat bleiben, ich musste mir 50 Euro von meiner zehnjährigen Tochter leihen. Das ist wirklich bitter", erzählt sie. Susanne bezieht aktuell Rehabilitationsgeld und absolviert eine Ausbildung zur Freizeitpädagogin, im September will sie wieder zu arbeiten beginnen.

Würde die Regierung auf die Analysen von ExpertInnen vertrauen, müsste sie ihren Entwurf zum Sozialhilfe-Grundsatzgesetz wohl einstampfen. In rund 140 Stellungnahmen meldeten sich VertreterInnen von Hilfsorganisationen und anderen NGOs zu Wort und stellten der Regierung ein vernichtendes Zeugnis aus: Die neue Sozialhilfe, die die 2010 eingeführte bedarfsorientierte Mindestsicherung ersetzen wird, stelle ein "Verarmungsgesetz", einen "massiven Rückenschritt" dar. "Die Sozialhilfe aus dem vorigen Jahrhundert ist zurück, aber paternalistischer und nach Bundesland zerstückelter, als sie es je war", so das Gesamturteil der österreichischen Armutskonferenz.

Sozialpolitik ist Frauenpolitik

Die Regierung zeigte sich wenig beeindruckt. Mit der Warnung vor einer "Zuwanderung ins Sozialsystem" und markanten Sprüchen des Kanzlers steckte sie früh den Kurs in Richtung Kürzungspolitik ab. "In den vergangenen Monaten wurde verstärkt gegen Armutsbetroffene Stimmung gemacht", sagt Manuela Wade, Politikwissenschafterin und Armutsexpertin bei der Volkshilfe. Für die Armutskonferenz hat sie eine Stellungnahme verfasst, wie die geplante Sozialhilfe Frauen ganz besonders treffen wird.

Die Formel ist im Grunde einfach: Wer im Sozialsystem kürzt, tut das immer auf Kosten der Frauen. Sie sind es, die weniger verdienen und über weniger Vermögen verfügen, einen Großteil der unbezahlten Arbeit leisten und stärker auf öffentliche Infrastruktur angewiesen sind. "Im österreichischen Sozialsystem gibt es geschlechtsspezifische Lücken, Sozialpolitik ist immer auch Frauenpolitik", sagt Manuela Wade dem STANDARD. Über ein Drittel der BezieherInnen von Mindestsicherung sind aktuell Frauen, aufgrund ihrer niedrigeren Löhne und fehlender Versicherungszeiten erhalten sie auch geringeres Arbeitslosengeld oder eine niedrige Pension, mit Leistungen aus der Mindestsicherung wird oftmals "aufgestockt". Am Entwurf der Sozialhilfe kritisiert die Armutsexpertin insbesondere, dass es keine einheitlichen Mindeststandards mehr geben wird, sondern Höchstsätze, die von den Bundesländern weiter gekürzt werden können. Auch die Kürzung der Kinderrichtsätze würde Frauen indirekt treffen, Mehrkindfamilien müssen künftig mit massiven Einschnitten rechnen.

Kritik aus allen Richtungen

Die Liste an Kritikpunkten, die von Frauenorganisationen eingebracht wurden, ist lang. Der Verein Autonomer Österreichischer Frauenhäuser warnt davor, dass sich die Lage von Frauen und deren Kindern, die vor gewalttätigen (Ex-)Partnern in Frauenhäuser flüchten müssen, dramatisch verschlechtern werde. Etwa wenn für EWR-Bürgerinnen und ihre Angehörigen, die sich erst fünf Jahre rechtmäßig in Österreich aufhalten müssen, um eine Leistung beziehen zu können, keine rasche Hilfe mehr möglich sei. Frauen könnten aufgrund von Existenzängsten beim gewalttätigen Partner bleiben, sind Gewaltschutzexpertinnen alarmiert.

Obwohl die Regierung immer wieder betont, Alleinerziehende besonders unterstützen zu wollen, zeigen sich deren VertreterInnen sehr kritisch dem im Gesetzesentwurf enthaltenen Alleinerzieherbonus gegenüber. Dieser ist eine Kann-Bestimmung, die Bundesländer müssen ihn also nicht umsetzen. "Rund ein Drittel der Kinder von Alleinerziehenden werden wegen der Kürzungen bei den Kinderzuschlägen vom Bonus gar nicht profitieren", sagt Manuela Wade.

In Österreich zählen Alleinerziehende – rund 90 Prozent von ihnen sind Frauen – zu jenen Gruppen, die das höchste Armutsrisiko tragen. "Für Alleinerziehende darf es keinesfalls weitere Einschnitte geben", sagt Andrea Czak vom "Aufstand der Alleinerziehenden", einer Gruppe von AktivistInnen, die sich für bessere Lebensbedingungen der rund 310.000 Alleinerziehenden-Familien einsetzt. Mitte März begleitete Czak wie so viele andere Aktivistinnen das Frauenvolksbegehren in den Gleichbehandlungsausschuss, um den Forderungen – darunter auch ein staatlich garantierter Unterhaltsvorschuss – Nachdruck zu verleihen. "Die Frauenministerin war nicht einmal anwesend, das sagt schon sehr viel über den Stand der Frauenpolitik in Österreich aus", sagt Czak.

Soziale Sicherung als Kinderrecht

Entmutigen lassen sich die Aktivistinnen dennoch nicht. Demnächst soll ein Verein gegründet werden, immer wieder beteiligen sie sich an Demonstrationen. So ist auch Susanne zur Gruppe gestoßen. Auf der Frauentagsdemonstration im vergangenen Jahr fielen ihr die Schilder auf, beim "Aufstand der Alleinerziehenden" wollte sie dabei sein. Susanne geht regelmäßig zu Treffen der Gruppe und demonstriert bei jedem Wetter. "Es ist unglaublich, mit welcher Ignoranz uns Politiker zum Teil begegnen, aber wir lassen nicht locker", sagt sie.

Manuela Wade von der Volkshilfe plädiert dafür, bei der Diskussion um soziale Sicherung auch Kinderrechte in den Blick zu nehmen. Artikel 27 der Kinderrechtskonvention garantiert jedem Kind ein Recht auf eine angemessene Entwicklung, Kinderarmut stelle somit eine grobe Verletzung dieses Rechts dar. "Wie Studien zeigen, rechnet sich jeder Euro, der in der Frühkindphase zum Beispiel in die Gesundheit investiert wird, achtmal", sagt Wade. Eine soziale Sicherung von Kindern sei also auch schlichtweg ökonomisch sinnvoll.

Ihrer Tochter ein gutes Leben bieten, das will auch Susanne. "Ich habe mir noch gar nicht im Detail angesehen, welche Auswirkungen die Sozialhilfereform haben wird. Aber es macht mir Angst", sagt sie. "Menschen wie der Bundeskanzler haben keine Ahnung, was es bedeutet, in Armut zu leben. Für sie selbst funktioniert das System gut."

Im Moment ist Susanne zuversichtlich. Ihre Tochter darf sie wieder von Donnerstag bis Sonntag betreuen, die pädagogische Ausbildung läuft gut. "Manchmal fühle ich mich aber ausgeliefert. Ich habe immer noch Angst, dass wieder ein Brief kommt, den ich nicht verstehe. Ich habe mir bisher noch alles erkämpft, aber es kostet so unglaublich viel Kraft." (Brigitte Theißl, 31.3.2019)