"Die größte Errungenschaft zugunsten der Kindheit heute ist die Abnahme der Gewalt in der Erziehung", sagt Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer.

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Was heißt es, heute Kind zu sein? Und damit zusammenhängend Eltern? Welche Auswirkungen haben die jüngsten politischen Maßnahmen im Schul-, Familien- und Sozialbereich auf Kinder und ihre Entwicklung? Fragen, mit denen sich Paulus Hochgatterer doppelt befasst: als Kinderpsychiater und als Schriftsteller. Im STANDARD-Interview erklärt er, was er an der aktuellen Kinderpolitik für besonders problematisch hält.

STANDARD: Sie haben in einer Rede nicht nur das "Recht auf den Mittagsschlaf" verteidigt, sondern forderten als weiteres "Nebenrecht" für Kinder das "Recht auf Gelassenheit". Wem würden Sie die besonders anraten? Man hat ja tatsächlich das Gefühl, es gibt kaum einen Bereich, in dem es unentspannter, ja hysterischer und neurotischer zugeht als im Umgang mit Kindern – von Helikoptereltern, die ihre Kinder permanent umkreisen, bis zur Bildungs- und Abstiegspanik vor allem von Mittelschichtseltern.

Hochgatterer: Wem würde ich Gelassenheit besonders empfehlen? Uns allen. Allen, die mit Kindern zu tun haben, Kindergartenpädagoginnen, Lehrern, Eltern sowieso. Vielleicht am wenigsten noch den Großeltern, weil die haben sie in der Regel eh, die Gelassenheit. Die haben an ihren eigenen Kindern gemerkt, dass der permanente Alarm in Bezug auf die Kinder das ist, was am wenigsten bringt.

STANDARD: Sind Eltern im Lauf der Zeit alarmistischer geworden?

Hochgatterer: Ja. Wenn man zurückgreift auf die eigene Kindheit, setzt man sich sofort dem Fauxpas der hemmungslosen Idealisierung aus, aber vor 50 Jahren waren die Eltern den Kindern gegenüber einfach anders. Natürlich gab es Befürchtungen und Ängste und in ihren Fantasien diverse Gefahren, aber die waren in einer anderen, entfernteren Weise präsent, als das heute der Fall ist. Vielleicht hat das damit zu tun, dass massive reale Gefahr, nicht nur für Kinder, den Menschen damals viel näher war. Deswegen war man früher den kleinen, banalen Gefahren gegenüber gelassener.

STANDARD: Was hat sich noch geändert, weil die Eltern anders geworden sind?

Hochgatterer: Die größte Errungenschaft zugunsten der Kindheit heute, zumindest in unseren Breiten, und das kann man empirisch jederzeit belegen, ist die Abnahme der Gewalt in der Erziehung. Das Gewaltverbot in den 1980er-Jahren ist etwas, das enorm wirksam war. Das sieht man ja an den Gewalttaten unter Jugendlichen. Die Jugend ist im Vergleich zu früher viel gewaltärmer geworden. Die Gewalttaten in Schulen haben abgenommen. Das heißt nicht, dass es sie nicht mehr gibt und dass man sie nicht ernst nehmen muss. Aber die Gewaltfreiheit in der Erziehung hat Früchte getragen. Eltern sind im Lauf der letzten Jahrzehnte kompetenter geworden, die Bereitschaft, sich mit den Kindern zu identifizieren, sich in sie hineinzuversetzen und zu fragen, was brauchen sie, ist gestiegen. Eltern haben diesbezüglich eine erfreuliche Entwicklung genommen.

STANDARD: Was sind die größten aktuellen, also zeitgebundenen, Störfaktoren, die Kindheit heute am nachhaltigsten prägen?

Hochgatterer: Das größte Problem ist aus meiner Sicht der Umgang mit unserer Beschleunigungsgesellschaft. Und da denke ich gar nicht daran, dass man immer die letzte iPhone-Generation haben muss, sondern an so Dinge wie den Zyklus von Beziehungen und die Frage, wie werden Beziehungen aufgenommen, was ist wichtig in Beziehungen und wie lange dürfen oder sollen sie dauern. Das ist eine Herausforderung.

STANDARD: Sie sagen: "Meiner Erfahrung nach gibt es einen ganz wichtigen prognostischen Faktor, der etwas darüber aussagt, ob sich ein Kind gut entwickelt oder schwierig wird." Welcher ist das?

Hochgatterer: "One caring person". Das ist eine Person, idealerweise eine erwachsene, bei der das Kind das Gefühl hat, dieser Mensch interessiert sich für mich, diesem Menschen bin ich wirklich ein Anliegen. Das kann ein Elternteil sein oder ein Großelternteil, das kann jemand in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft sein, eine Tante oder ein Onkel. Es ist dabei überhaupt nicht wichtig, ob das ein Mann oder eine Frau ist.

STANDARD: Was ist eigentlich eine "glückliche Kindheit"? Was ist dafür am wichtigsten?

Hochgatterer: Das sage ich immer: Freiheit. Und das bedeutet überhaupt nicht Schrankenlosigkeit.

STANDARD: An der Stelle kommt meistens der Satz: Kinder brauchen Grenzen ...

Hochgatterer: Kinder haben eh so viele Grenzen. Zu viele haben sie auch nicht. Aber dieses dauernde aufgeregte Gerede von den Grenzen für Kinder ist völlig überflüssig. Kinder brauchen Freiheit, und zwar Freiheit, sich zu entfalten, Freiheit, ihre kreativen Fähigkeiten zu entdecken, Freiheit, sich zu irren, Freiheit, gewisse Risiken einzugehen, Freiheit, sich einfach mit der Realität auseinanderzusetzen.

STANDARD: Was, wenn jemand sagt, ich hatte keine schöne Kindheit, sondern eine schwere – ist das ein Schatten, den man nie mehr loswird? Oder wie lange darf man eine unglückliche Kindheit als Erklärung oder Ausrede für das spätere Leben heranziehen?

Hochgatterer: Da kommen wir zu einem meiner Lieblingsfeinde, dem Schlussstrich. Die Rede vom Schlussstrich halte ich für extrem gefährlich, weil das ist so eine Figur, die die Möglichkeit impliziert, ein Leben zu führen ohne die Notwendigkeit, irgendwo anzuschließen. Das geht nicht. Wir alle tragen den biografischen, den sozialen oder auch den historischen Rucksack mit uns herum, der uns halt auf die Schultern geladen wurde, und den kann man nicht ablegen. Der ist für die einen schwieriger als für die anderen, vielleicht auch traumatisierend, aber es funktioniert nie, ihn abzuschneiden. Es geht immer darum, diese Dinge in die eigene Geschichte zu integrieren.

STANDARD: Eine besonders schutzbedürftige Gruppe von Kindern sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Was brauchen sie, und bekommen sie es in Österreich auch?

Hochgatterer: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben in erster Linie das nicht, worüber wir vorhin gesprochen haben, nämlich "one caring person". Sie haben teilweise über Monate oder viel länger die Erfahrung gemacht, dass da niemand ist, dem sie ein Anliegen sind. So jemanden brauchen die. Jemanden, der sich kümmert, dass sie Schulplätze oder Lehrstellen kriegen, in Therapien kommen und Behandlungen erhalten, die sie benötigen. Die sind nicht in der Lage, aufzustehen und zu sagen: Ich brauche das und das, ich will in die Schule gehen. Denn ihnen sind Dinge widerfahren, von denen wir uns überhaupt keinen Begriff machen. Jugendliche, deren Eltern und womöglich auch Geschwister erschossen wurden und die unter extremen Bedingungen gerade noch davongekommen sind, sind nicht autonom in dem, was sie tun können. Das geht nicht. Dazu braucht es gerade in einem Staat, der so wohlhabend ist wie unserer, die Ressourcen, dass man es Menschen ermöglicht, sich hinter diese Jugendlichen zu stellen und zu sagen: "Ich bin für dich da."

STANDARD: "Manchmal regt mich auch noch das Thema Schule auf", sagten Sie einmal. Was regt Sie im Zusammenhang mit der Schule, so wie sie derzeit ist, am meisten auf?

Hochgatterer: Was mich in letzter Zeit, aber das ist auch nicht weiter überraschend, total aufgeregt hat, war, dass man bei den Kleinen die Notenbeurteilung und das Sitzenbleiben wieder einführt.

STANDARD: In den ersten zwei Volksschulklassen soll es wieder Ziffernnoten und Klassenwiederholungen geben. Was macht das mit Kindern?

Hochgatterer: Das macht Angst und Scham. Wenn man Kinder ängstigen und beschämen will, dann soll man das so machen. Aber die grundsätzliche Frage ist überhaupt: Will man in einer Gesellschaft freie, mündige Menschen heranbilden, oder will man gehorsame Befehlsempfänger? Wenn man Menschen haben will, die stumm werden und sich ducken, wenn von oben herab jemand laut spricht, oder Menschen, die auf Befehl strammstehen und Parolen nachbrüllen, dann soll man möglichst früh anfangen, die Kinder zu ängstigen und zu beschämen.

STANDARD: Wenn Sie jetzt Bildungsminister wären ...

Hochgatterer: ... dann würde ich das sofort wieder abschaffen, unbedingt. Die Ziffernnoten und das Sitzenbleiben in den ersten beiden Volksschulklassen – das ist strukturelle Gewalt. Ich habe gerade gesprochen von den Errungenschaften der Gewaltfreiheit in der Erziehung, und da kommt die Gewalt wieder bei der Hintertür herein. Was sind wir für ein armseliger Staat, wenn das Erste, das uns zu kleinen Kindern einfällt, ist, strukturelle Gewalt auszuüben?! Das ist doch jämmerlich.

STANDARD: Was würden Sie tun, um die Schule kindgerechter zu machen? Sie haben ja auch eine Heilstättenschule am Klinikum.

Hochgatterer: Die Dinge, die bekannt sind und banal. Kleine Klassen und ein gutes Beziehungsangebot. Also in der Volksschule Klassen, in denen maximal 20, eher 15 Kinder und immer zwei Lehrer drin sind. Das wäre super.

STANDARD: Apropos Kinderpolitik oder Politik für Kinder: Die Regierung möchte den Papamonat einführen, gleichzeitig kommt bei der neuen Sozialhilfe eine Staffelung pro Kind. Ab dem dritten gibt es fünf Prozent des Nettoausgleichszulagenrichtsatzes. 2018 waren das im Monat 43 Euro. Ihre Meinung?

Hochgatterer: Aus kinderpsychiatrischer Sicht ist das völlig blödsinnig. Das ist auch hinreichend untersucht, etwa in Deutschland, wo sich ganz eindeutig zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder psychisch krank werden, in sozioökonomisch benachteiligten Familien doppelt so hoch ist wie in wohlhabenden Familien. Also wenn man möchte, dass Kinder psychisch krank werden, dann macht man die Familien arm. Wenn das die Intention des Staates ist, dann wird er mit dieser Methode schon erfolgreich sein.

STANDARD: Und wie wichtig ist der Papamonat? Oder Symbolaktion?

Hochgatterer: Den Papamonat halte ich schon für wichtig. Ich würde mir da zwar auch noch mehr Freiheiten wünschen, aber für mich als jemanden, für den es kaum etwas Spannenderes gibt, als ein kleines Kind beim Kontakt mit Vater oder Mutter zu beobachten, ist das fein. Auch symbolisch, weil es bedeutet: Liebe Väter, kümmert euch um eure Babys. (Lisa Nimmervoll, 31.3.2019)