Jo Cameron führt ein schmerzbefreites Leben. Das hat auch Nachteile: Wenn sie sich mit dem Bügeleisen oder an der Herdplatte verbrennt, merkt sie das meist erst am Geruch.
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Jo Cameron ist ein Mirakel. Zu diesem Wunder gehört auch die Tatsache, dass sie 71 Jahre alt werden musste, ehe die Welt dieser Tage von ihren Besonderheiten und deren genetischen Ursachen erfuhr: Aufgrund zweier ungewöhnlicher Mutationen in ihrem Genom fühlt die pensionierte Lehrerin so gut wie keinen Schmerz und keine Angst. Sie ist zudem notorisch fröhlich, aber auch überdurchschnittlich vergesslich – und verfügt praktischerweise über eine exzellente Wundheilung.

Das hätte dem einen oder anderen Arzt, der Jo Cameron im Laufe ihres bisherigen Lebens behandelte, auch schon früher auffallen können. Zum Beispiel, als sie neun Jahre alt war und sich den Arm brach. Einen Doktor suchte sie erst nach ein paar Tagen auf – als die Knochen bereits falsch zusammenwuchsen.

Viel verbrannte Haut

Beim Bügeln hat die Schottin, die in Inverness lebt, dutzende Male auch ihre Haut erwischt – ohne dass ihr das groß aufgefallen wäre. Wenn sie kocht, dann hilft ihr, dass sie Vegetarierin ist: Riecht es nach angebranntem Fleisch, dann weiß sie, dass sie die Hand von der Herdplatte nehmen sollte. Und vor der Geburt ihrer beiden Kinder warnte man sie vor, dass sie beim Geburtsvorgang große Schmerzen erleiden würde. Jo Cameron brauchte natürlich keine Schmerzmittel.

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Auf die Idee, dass bei Cameron schmerzmäßig etwas nicht ganz in Ordnung sein könnte, kamen Ärzte erst vor kurzem. Als sie 65 Jahre war, fiel ihr schiefer Gang auf; und Röntgenaufnahmen zeigten abgenützte Hüftgelenke. Operiert wurde sie erst Jahre später, weil sie keine Schmerzen hatte. Doch erst als sie sowohl nach dieser Operation als auch nach einem Eingriff wegen Arthrose bei ihren beiden Daumen ohne Schmerzmittel auskam, wurde ein Arzt neugierig und überwies seine Patientin an Schmerzexperten des University College London (UCL).

Bei einer Analyse des Genoms von Cameron zeigten sich zwei Genmutationen, von denen eine völlig unbekannt war, wie Mediziner um James Cox (UCL) am Donnerstag in der aktuellen Ausgabe des "British Journal of Anaesthesia" berichteten. Eine der beiden Mutationen ist relativ häufig und schwächt die Aktivität des Gens FAAH, das wiederum den Abbau sogenannter Anandamide regelt. Diese chemischen Substanzen sind natürliche Cannabinoide und spielen eine wichtige Rolle beim Schmerzempfinden, der Stimmung und der Erinnerung.

Mehr Cannabinoide im Blut

Zusätzlich zu dieser Abschwächung des Anandamid-Abbaus fehlt bei Cameron aber auch noch ein Stück DNA des bislang unbekannten Gens FAAH-OUT, das – so vermuten die Forscher – wie ein Regler für das Cannabinoid wirkt. Diese Regler dürfte bei Cameron quasi voll aufgedreht sein, was dazu führt, dass sie doppelt so viel Anandamide im Blut hat wie normale Menschen.

Das erklärt zum einen ihr Leben ohne Schmerzen. Zum anderen dürfte diese Anomalie auch dafür verantwortlich sein, dass Cameron auch Panik und Angst ziemlich unbekannt sind. Womöglich hängt auch ihre außergewöhnlich gute Wundheilung mit diesem mutierten Gen zusammen.

Schmerzexperte James Cox zeigte sich im britischen Guardian jedenfalls davon überzeugt, dass sein Team noch eine ganze Menge von Jo Cameron lernen können wird. Im nächsten Schritt wollen die Forscher klären, wie das neu entdeckte Gen genau arbeitet. Danach könne man womöglich sogar über Gentherapien nachdenken, die jene Effekte nachahmen, die Jo Cameron wundersamerweise von Geburt an besitzt.