In der Hyperrealität des ästhetischen Kapitalismus postmoderner Gesellschaften gibt nichts Authentischeres mehr als die Inszenierung. Sozial- und Wirtschaftswissenschafter Paul Reinbacher im Gastkommentar über den Hype um die Band "Bilderbuch".

"Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen einer Epoche über sich selbst", schrieb einst Siegfried Kracauer. Ganz in diesem Sinne ist populäre und insbesondere Popmusik ein gesellschaftliches Phänomen – also ein Ausdruck von Trends und Tendenzen einer Epoche. Die soziale Bedingtheit der Musik zeigt sich vor allem dort, wo sie auf ökonomische Verwertungs- und Marktlogik trifft oder wo die Kulturindustrie das von der Avantgarde diskreditierte Material auf kapitalistische Verwertungsmechanismen hin ausrichtet (wie der Pop-Papst Diedrich Diederichsen meint).

Mitunter greift populäre beziehungsweise Popmusik in ihren Inhalten – vor allem in Titeln und Texten – den Zeitgeist direkt auf und positioniert sich damit selbst im Verhältnis zu aktuellen Themen. Sie bedient zum Beispiel Strömungen des Konsumfetischismus oder der Konsumkritik, wenngleich dies dann nicht selten dazu führt, dass die pop(ulär)musikalische Kritik an Konsumismus und Kapitalismus aufgrund ihres eigenen "Fetischcharakters" (Adorno) zum sich selbst als Kritik konterkarierenden Ausdruck dieses kapitalistischen Konsums wird: "Sie sagt Ja. Und will doch Nein sagen", wie Diederichsen es formuliert hat.

Cartoon: Michael Murschetz

Phänomen der Selbstähnlichkeit

Dieses "Nein im Modus des Ja" ist seinerseits Ausdruck des ambivalenten Verhältnisses zwischen Musik als sozialer Praxis einerseits und der Gesellschaft als ihrer Heimat andererseits. Es lässt sich am besten als Phänomen der Selbstähnlichkeit, bestehend aus wiederkehrenden Widersprüchen auf unterschiedlichen Ebenen verstehen. Unter anderem ist dies daran abzulesen, dass künstlerische Kritik am Kapitalismus ihrerseits der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen wird – und wohl werden muss, weil sie nur so eine Chance hat, in der Gesellschaft auch Gehör zu finden.

Die gesellschaftliche Tiefenstruktur mit ihren eine Epoche und die in ihr lebenden Menschen charakterisierenden Tendenzen bringt also musikalische Formen als "Oberflächenäußerungen" hervor, um sich diese dann in einem nächsten Schritt als Trends wieder anzueignen. Die Anschlussfähigkeit beziehungsweise die Kompatibilität von Sphären der Produktion und der Rezeption dürfte dabei insgesamt ganz wesentlich auf unerkannter und unreflektierter Selbstähnlichkeit beruhen.

Simulation von Provokation

Dies lässt latente Mechanismen vermuten, die tiefer liegen als die manifesten Inhalte künstlerischer Formen. Während Kracauer die zu formalen Formen verdichteten Ornamente der Masse noch als Ausdruck fortschreitender Rationalisierung in modernen Gesellschaften interpretieren konnte, müssen wir heute eher nach "ästhetischen Reflexen" auf postmoderne Absagen an die Rationalität Ausschau halten: Was, wenn es tatsächlich mehr als bloß Zufall ist, dass eine der erfolgreichsten Bands dieser Tage sich Bilderbuch nennt? Was, wenn es sich dabei um ein Epiphänomen der gesellschaftsweiten Abkehr von diskursiver Logik und der Wende hin zur präsentationalen Symbolik des Bildlichen handelt?

Wir könnten dann wirklich suchen nach "positiven Feelings als Politik" (Karl Fluch), genauer vielleicht: als Politik der "Wahnsinnssuperduperfunky-Goodgoodtime" (Christian Schachinger), also nach emotionalen "Leerformen" (Kracauer). Vielleicht ist die Simulation von Provokation und Protest nicht nur postmodernes Surrogat für Gesellschaftskritik, sondern "als eine gewisse, speziell im Wiedererkennungswert beheimatete Leere" (Schachinger) eher Ausdruck jener dritten Ordnung der "Simulacra" (Jean Baudrillard), mit der nicht mehr imitiert, sondern mit der eine "Hyperrealität" erzeugt wird? Dann verweist auch die künstlerische Praxis nicht mehr länger auf Inhalte, sondern nur noch auf Oberflächen – und vor allem: auf sich selbst (zum Beispiel als "Manifest positiver Vibes").

Hyperrealität des ästhetischen Kapitalismus

Außerdem verschwindet dann nicht nur die Grenze zwischen der Realität und der Repräsentation (oder gar der Reproduktion), sondern es tritt an die Stelle fremdreferenzieller Imitation nun selbstreferenzielle Inszenierung als Illusion, sodass eine Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Imaginären nicht mehr möglich (und nicht mehr erforderlich) ist. "Eine Band sampelt sich selbst" hat ja auch Maurice Ernst in einem Interview über "Schick Schock" als "Grundgedanken des Albums" bezeichnet. Und das trifft sich gut mit einer Gesellschaft, die auf Selbstinszenierung gründet – denn: "Nur der Schein trügt nicht" (Josef Albers).

In dieser Hyperrealität des ästhetischen Kapitalismus postmoderner Gesellschaften macht es letztlich keinen Sinn mehr, zwischen authentischen und bloß inszenierten Erfahrungen zu unterscheiden, denn es gibt nichts Authentischeres mehr als die Inszenierung. Mit William S. Burroughs: "Ein Sperrfeuer von Bildern hüllt alles in einen Schleier; wir sehen nichts, wie einer, der im Smog herumgeht". Das damit einhergehende Verschwinden von sinnstiftenden Differenzen und in weiterer Folge von Kritik und Moral bleibt als Problem zurück für jene, die (sich) an klassischen Konzepten der Analyse, der Argumentation oder der Aufklärung festzuhalten versuchen, statt sich über eine "imaginäre Lösung für nicht vorhandene Probleme" (Baudrillard) zu freuen. (Paul Reinbacher, 30.3.2019)