Julia Assane wachte davon auf, dass das Dach ihrer Hütte wegflog. Danach gaben die aus Holz und Lehm gebauten Wände nach: Zusammen mit ihrem Großvater, dem Onkel und Bruder flüchtete sie hinter einen mächtigen Baum am Rand ihres Dorfs, der dem Orkan wie durch ein Wunder standhielt. Aneinandergekauert verbrachten sie die Nacht in Deckung: Als der Wind etwas nachließ, gingen sie zum Haus ihres Onkels, von dem wenigstens noch die Mauern standen. Zwei Tage später kam die Flut. Morgens trat das Wasser über das Ufer des Busi-Flusses, mittags hatte es bereits das 500 Meter vom Strom entfernte Dorf Mutchenessa erreicht. Erneut blieb Julia und ihrer Familie nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen.

Drei Tage lang stieg die Flut unaufhaltsam an. Zuweilen reichte Julia das Wasser bis über die Brust. Die Nächte verbrachten sie auf kleinen Anhöhen sitzend im Schlamm, tagsüber hielten sie nach besseren Rückzugsgebieten Ausschau. Zu essen hatten sie nichts: Erst am dritten Tag tauchte ein Helikopter auf, der mit Proteinen, Kohlehydraten und Vitaminen angereicherte Kekse abwarf. Sie habe nicht gedacht, dass sie das überleben werde, sagt Julia, während sich in ihren Augen Tränen sammeln. Soldaten aus einem fremden Land brachten sie schließlich mit einem Motorboot nach Beira: Seitdem sitzt die junge Frau in einem Zeltlager in der Nähe des Flughafens der Hafenstadt. Nie wieder werde sie nach Mutchenessa zurückkehren, sagt sie leise: "Wer kann sagen, dass das nicht wieder passiert?"

Die 23-jährige Julia Assane lebt wie viele andere Mosambiker, deren Behausungen durch den Orkan zerstört wurden, in einem Zeltlager.
Foto: Johannes Dieterich

Mehr als 500 Tote durch den Orkan

Mit mehr als 170 Stundenkilometern fegte Zyklon Idai am 14. März über die mosambikische Küste: In Beira, vor allem aber im südwestlich angrenzenden Busi-Distrikt blieb kaum ein Haus und schon gar keine Hütte verschont. Drei Tage später kamen aus der anderen Richtung die Fluten, um den Distrikt in einen einzigen See von der Größe Luxemburgs zu verwandeln: Mehr als 500 Mosambiker fanden in den Wassermassen den Tod, in den Nachbarstaaten Simbabwe und Malawi starben weitere 250 Menschen. Fast zwei Millionen Mosambiker wurden von dem Orkan um Haus und Hof gebracht: Rund 100.000 Häuser und Hütten wurden zerstört oder beschädigt, fast 700.000 Hektar an Feldern ruiniert. "Etwas Ähnliches hat nicht einmal meine Mutter erlebt", sagt Luis Inacio – und die ist mehr als 90 Jahre alt.

Inzwischen herrscht auf dem Busi-Fluss die Ruhe nach dem Sturm. Sanft kräuselt sich sein braunes Wasser in der Morgensonne, ein kleines Geschwader an Kormoranen fliegt Formationen, von einem zerfetzten Baum am Ufer aus verfolgt ein Affe das Motorboot. Wenig später taucht am rechten Uferrand das Städtchen Busi auf: Sein dortiges Geschäft konnte Inacio bisher von Beira aus mit dem Auto erreichen, doch seit die Flut die Straße und ihre Brücken zerstört hat, ist der 64-Jährige auf den Flussweg angewiesen.

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Breite Landstriche stehen in Mosambik unter Wasser.
Foto: REUTERS/Mike Hutchings

Braune Streifen an den Wänden

Heute wären Busis ungeteerte Straßen schon wieder befahrbar – wenn es noch funktionierende Fahrzeuge gäbe. Das Städtchen sei nicht wiederzuerkennen, sagt Inacio beim Rundgang durch die Trümmer. Kaum ein Haus verfügt noch über ein Dach, viele Hütten sind spurlos verschwunden, ein Hunderte von Jahren alter Baobab-Baum ist auf mehrere Behausungen gestürzt. An den Hauswänden zeigen braune Streifen, wie hoch das Wasser noch vor wenigen Tagen stand: In den meisten Fällen befinden sie sich auf Fensterhöhe. Busis Bewohner haben ihre Matratzen, Möbel und Kleider ins Freie geschleift, um sie in der Sonne zu trocknen; manche sind auch schon mit dem Wiederaufbau ihrer ruinierten Hütten beschäftigt.

Nichts blieb vom Sturm verschont. Orkan Idai faltete eine Satellitenschüssel wie ein Taco, die Räder eines Rollstuhls ragen aus dem Matsch, das Schwimmbad des örtlichen Hotels sieht wie mit Gülle gefüllt aus. Fließendes Wasser gibt es genauso wenig wie Strom, ein Mobilfunksignal oder Elektro- und Dieselmotoren. Ob Inacios Tiefkühltruhen zerstört sind oder nach dem Trocknen wieder in Gang gebracht werden können, wird sich erst herausstellen, wenn es in Busi wieder Strom gibt. Doch wann das sein wird, weiß keiner.

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In den Dörfern beginnen die Bewohner teilweise mit den Aufräumarbeiten.
Foto: AP Photo/Tsvangirayi Mukwazhi

1.000 Cholera-Fälle

Inacios Managerin Muanausane Aly war am Abend der Heimsuchung mit ihren drei Enkeln zu Hause. Als der Zyklon das Städtchen erreichte, sah sie als Erstes das Blechdach des Nachbarhauses durch ihren Vorgarten fliegen, dann kam ihr eigenes Zinkdach dran. Ihr jüngster, neunjähriger Enkel fing an zu schreien: Er sollte sich die ganze Nacht nicht wieder beruhigen. Als drei Tage später die Flut kam, suchte die Familie Zuflucht auf dem Betondach der nahegelegenen Moschee: Dort harrten sie gemeinsam mit mehreren Dutzend anderer Stadtbewohner vier Tage lang aus. Ihre Notdurft mussten sie im Wasser verrichten, einer ihrer Enkel ist inzwischen erkrankt.

Auch Busis Krankenhaus blieb nicht verschont: Manches Dach fehlt ganz, andere sind notdürftig repariert. Unter den zwanzig Patienten befinden sich auch welche, die unter wässrigem Durchfall leiden: Es wurden bereits mehr als 1.000 Fälle von Cholera bekannt. Der Cholera-Bazillus ist hier ohnehin endemisch, also heimisch: Fachleute rechneten fest damit, dass es nach dem Desaster wegen der Vermischung des Grund- und Abwassers zu Cholera- oder Typhusepidemien kommen wird. Schon sind Logistiker der Ärzte ohne Grenzen in Busi eingetroffen, um neben dem Krankenhaus eine Seuchenstation aufzubauen. Das "Gute" an Cholera sei, dass es so einfach zu kurieren sei, sagt eine Helferin, die anonym bleiben will: "Kranke kommen oft morgens auf allen vieren in die Klinik gekrochen und gehen abends wieder aufrecht nach Hause." Doch wer die Hilfe nicht rechtzeitig findet, kann innerhalb von wenigen Stunden sterben.

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Humanitäre Helfer strömen in das Land.
Foto: AP Photo/Tsvangirayi Mukwazhi

Flut an Hilfskräften

Beira, zwei Wochen nach dem Sturm. In den Schulen sind Tausende von Flüchtlingen einquartiert, nachts schlafen Hunderte von Heimatlose auf den Trottoirs der Hafenstadt. Tagsüber schaffen Arbeitskolonnen Berge von Ästen und ganze Bäume von den Straßen: Wenigstens müssen sich die Stadtbewohner in den kommenden Wochen keine Sorgen um Brennholz machen. Auf dem Flughafen herrscht unterdessen Hochbetrieb: Von internationalen Hilfsorganisationen gecharterte Maschinen fliegen tonnenweise Nahrungsmittel und Zelte, Anlagen zur Wasserreinigung und Medikamente ein. Nach den Wassermassen hat sich über die Stadt eine Flut an Hilfskräften ergossen: Außer zur Linderung der Not tragen sie zu massiven Preissteigerungen bei. "Wenn sich die Lage der Leute nicht bald bessert, könnte die Stimmung schnell umschlagen", sagt ein Mosambiker.

Präsident Filipe Nyusi zeigt sich optimistisch. Beim ersten Besuch im Katastrophengebiet habe er nur Wasser gesehen, jetzt schaue er schon wieder in lachende Gesichter, sagt der Staatschef. Er sitzt in Beiras schickstem Hotel, wo er von einer Phalanx ausländischer Hilfsmanager und Militärs empfangen wird. Zumindest habe der Zyklon nicht auch die legendären Garnelen der Stadt ausradiert, tröstet der Präsident die ausländischen Helfer – und wird seinerseits von UN-Nothilfekoordinator Sebastian Rhodes Stampa getröstet: "Kein Staatschef dieser Welt kann mit einer derartigen Herausforderung alleine fertig werden. Wir bleiben solange hier, wie Sie das wünschen."

Sorge um die Zukunft

Nach der Rettungsphase sei nun die Etappe des Wiederaufbaus gekommen, fährt Nyusi fort: Die internationale Solidarität zeige, dass es "weltweit ein Bewusstsein für die Folgen des Klimawandels" gebe. Die Frage, was getan werden müsse, um derartige Katastrophen in Zukunft zu verhindern, beantwortet der Präsident nicht: Ihm wird die Frage auch nicht gestellt, weil er nur ein Statement verliest.

Er habe in den Fluten mindestens 10.000 US-Dollar verloren sagt Geschäftsmann Inacio: So viel setzt er mit seinem Laden in Busi in einem halben Jahr nicht um. Managerin Aly hat das Geschäft wieder auf Vordermann gebracht: Ordentlich stehen Waren auf dem Regal, an den Wänden ist nicht einmal mehr die braune Wasserstandslinie zu sehen. Größere Sorgen als um seinen unmittelbaren Verlust macht sich Inacio um die Zukunft des Ladens: "Inzwischen können sich die Leute hier nichts mehr leisten." Viele Bewohner des Bezirks würden gar nicht erst wieder zurückkommen, sagt der Geschäftsmann – was angesichts der in den vergangenen zwei Jahrzehnten dramatisch gewachsenen Zahl und Stärke der Zyklone auch kein Wunder wäre. Experten machen für den besorgniserregenden Trend die Klimaerwärmung verantwortlich. (Johannes Dieterich, 2.4.2019)